GEORG GAUGUSCH:
Via Langstrecke ins Ziel
Es gibt in der Wissenschaft und auch in der Welt der Verlage oft überdimensionale Unternehmungen, die denn entsprechenden Kultstatus genießen. Lange hat man gewartet, bis Georg Gaugusch sein Riesenprojekt „Wer einmal war“ vollenden konnte, das der Amalthea Verlag bereit war, mit aller Sorgfalt heraus zu bringen. Vier Bände sind es geworden, die beiden letzten nun erschienen (das Register muss noch folgen). Georg Gaugusch, der nächstes Jahr erst 50 wird, hat buchstäblich mehr als sein halbes Leben mit dieser Arbeit verbracht.
Renate Wagner hat mit ihm gesprochen.
Wer einmal war S–T:
Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938
1544 Seiten, Analthea Verlag, 2023
Wer einmal war U–Z:
Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938
784 Seiten, Analthea Verlag, 2023
Herr Gaugusch, mehr als ein Vierteljahrhundert Arbeit an einem Projekt – wie fühlt man sich da, wenn es nun auf einmal zu Ende ist?
Erleichtert, gewiss, aber es muss ja noch das Generalregister erstellt werden, bei 685 Familienkapiteln sind das gut 120.000 Namen. Als ich begonnen habe, den Wiener jüdischen großbürgerlichen Familien nachzuforschen, dachte ich noch, mit einem Band Auslangen zu finden, dann mit zweien, nun haben wir vier gebraucht. Die Seiten sind durchnumeriert, Band 4 endet mit Seite 5370, und da wurde kein Platz verschwendet. Die Bücher sind das Resultat konsequenter Arbeit – es hat keinen Sinn, dabei zu sprinten, es ist besser, sich in ruhigem Langstreckenlauf zu üben.
Begonnen hat es Ende der neunziger Jahre mit Ihrem Interesse an den alten Auftragsbüchern der Firma Wilhelm Jungmann & Neffe am Albertinaplatz, die Sie leiten. Das war ja noch in den Zeiten der frühen Computeranfänge…
Ja, und ich habe auch ganz klassisch mit Zettelkästen zu arbeiten begonnen. Wilhelm Jungmann hat die Firma, die damals vor allem nobelste Damenmode herstellte, 1866 begründet und brachte es bald zum k. u. k Hoflieferanten. Da er selbst keine Kinder hatte, nahm er seinen Neffen ins Geschäft, und der Name Wilhelm Jungmann & Neffe blieb beim nächsten Besitzer bestehen. Die Auftragsbücher haben mich schon fasziniert, als ich noch Chemiestudent war und meine Mutter das Geschäft leitete. Denn neben dem Adel und dem Kaiserhaus waren es vor allem jüdische Großbürger, die zu den Kunden zählten. Das waren Menschen und Familien, die im 19. Jahrhundert in der Monarchie eine überaus wichtige Rolle gespielt haben – und von denen man nichts mehr wusste außer vielleicht ein paar vereinzelte Namen. Mit dem Holocaust wurden nicht nur die Menschen, sondern auch ihre Geschichte ausgelöscht. Das hat mein Forscher-Interesse in Gang gesetzt – ich wollte wissen, wer diese Menschen waren. Und ich kann sagen, ich habe viele, sehr viele von ihnen gefunden. Wobei es für jüdische Familien typisch ist, dass sie erstens stark untereinander geheiratet hatten, es also viele familiäre Querverbindungen gibt, und dass viele von ihnen viele Kinder hatten, was dann zu einzelnen Familienzweigen führte…
Das ist fraglos ein kompliziertes Forschungsgebiet. Der Zettelkasten wich dem Computer, aber man konnte ja nicht alles aus der damals diesbezüglich noch nicht reichen Sekundärliteratur holen.
Jüdische Friedhöfe waren das Um und Auf für Informationen, Grabsteine sind eine hervorragende Quelle, weil sie oft viel über die Menschen unter der Erde erzählen. Und da dort auch ein Teil der Grabsteine mit hebräischen Buchstaben beschrieben ist, habe ich diese Schrift lesen gelernt, Wenn einen etwas interessiert, ist das kein Problem. Es ging mir ja nicht nur darum, die Familiengeschichten zu erzählen, sondern auch für die einzelnen Mitglieder so viele Daten und Fakten aufzuspüren wie möglich. Ich habe übrigens den jüdischen Friedhof hinter dem Ersten Tor des Zentralfriedhofs durchfotografiert, den könnte ich vermutlich mit geschlossenen Augen führen.
Was an jüdischen Familien, an ihrer kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung in Wien zusammen kam, hatte seinen Ursprung ja oft in den Kronländern. Wohin haben die Reisen Sie und Ihre Frau hier geführt?
Man kann sagen, in alle Gebiete der einstigen Monarchie, von Czernowitz bis Siebenbürgen und die Wojwodina, kurz, in die entlegensten Winkel. Es ist interessant, dass Menschen, die durch das jüdische Prinzip der Bildung, Bildung, Bildung in Wien hervorragende Karrieren gemacht haben, oft von Vorfahren aus kleinsten Verhältnissen in kleinsten Orten stammten. Die Voraussetzung, es zu etwas zu bringen, war allerdings, in die „Kaiserstadt“ zu kommen, da man für den Aufstieg ja auch ein gewisses Umfeld benötigt. Und selbst ein jüdischer ungarischer Landadel, der sich viel auf seinen Gütern aufhielt, hatte dann ein Haus oder Palais in Budapest oder in Wien.
Der Reichtum vieler jüdischer Großbürger-Familien war legendär, aber hat sich in fast allen Fällen nicht gehalten.
Das ergab sich logisch aus der Geschichte, schon der Erste Weltkrieg hat vieles zerstört, und nach dem Anschluss erfolgte ja dann die Auslöschung der Menschen. Man muss ja bedenken, dass die Juden immer schon, auch in der so genannten liberalen Ära, das klassische Feindbild aller waren, der Katholiken, der Sozialisten, der Deutschnationalen sowieso. Für mich war es wichtig, die Familiengeschichten ganz zu erzählen, Anfänge, Aufstiege, Untergang, wobei der Rahmen des Buches mit 1800 bis 1938 angegeben ist, aber viele, die hier als Kinder und Enkel vorkommen, bis in spätere Zeit gelebt haben.
Hat Ihnen der ungeheure Arbeitsaufwand überhaupt noch Zeit für irgend etwas anderes gelassen?
An sich arbeite ich immer, weil mir schnell fad wird. Aber natürlich, ich habe einen Jugendlichen aufgezogen, wir sind viel gereist, und ich führe das Geschäft. Es ist derselbe „Nobel“-Laden wie seit der Gründung, aber auch wenn es kein jüdisches Großbürgertum mehr gibt, haben wir keinen Mangel an Kunden. Und selbstverständlich gibt es auch heute noch einen „Adel“ – das war der fromme Wunschtraum der Sozialisten zu glauben, wenn sie den Namen reduzierten, schafften sie auch den Stand und seinen Lebensstil ab… Es gibt genug Menschen, die es sich leisten können, auf Qualität zu setzen. Im Grunde ist das, wofür wir stehen, Qualität und Nachhaltigkeit, heute gefragter denn je – eine Jacke aus edlem Kaschmir ist der Gegenpol zur Massenware aus der Dritten Welt, die mehr und mehr abgelehnt wird.
Noch einmal zurück zu den Büchern: Diese vier Bände, drei überaus voluminös, der vierte auch noch dick genug, sind ja finanziell kaum zu stemmen. War es für den Verlag leicht, die nötigen Subventionen zu bekommen?
Ich muss ehrlich sagen, ohne die Unterstützung von Randy Schoenberg hätten wir es nicht geschafft. Er ist der Enkel des Komponisten Arnold Schönberg und betreibt eine Website über jüdische Genealogie, die sehr nützlich ist, vielfach auch Partezettel zeigt, aus denen man viele Informationen über Leben und Verwandtschaft entnehmen kann. Schoenbergs dankenswertes Sponsoring war doppelt so hoch wie das, was die Republik und die Stadt Wien zu diesem Buch beigesteuert haben.
Aber einen Orden wird es für diese Ihre außerordentliche Leistung doch geben?
Wenn man so etwas macht, muss man es aus Begeisterung tun und darf weder auf Lob noch Geld aus sein. Wenn man in Österreich frustriert werden will, muss man in dem Glauben leben, dass man für seine Leistung auch Anerkennung erfährt.