Fotos: Volksoper
WIEN / Volksoper:
WEST SIDE STORY von Leonard Bernstein
Premiere: 27. Jänner 2024,
besucht wurde die zweite Vorstellung am 30. Jänner 2024
Leonard Bernsteins „West Side Story“ hat einen Vorteil: Man kennt sie gut. Sie hat auch einen Nachteil: Man kennt sie zu gut. Die 1961er Verfilmung dieses „Tanz-Musicals“ hat die geniale Choreographie von Jerome Robbins, die ebenso viel zum Erfolg beigetragen hat wie Bernsteins Musik, als unverzichtbaren Anteil des Werks in die Welt getragen – eine absolut mitreißende Show, die jederzeit medial wieder überprüfbar ist.
An solchem Vorbild wird jede Live-Aufführung gemessen, und vieles „anders“ zu machen, erweist sich nicht unbedingt als zielführend, wie die nunmehrige Aufführung in der Volksoper beweist. Was Direktorin Lotte de Beer, die sich selbst der Inszenierung annahm, bewogen haben mag, das Stück in ein komplett trostloses, anonymes Ambiente zu stellen, weiß wohl nur sie. Vermutlich wollte sie den Finger darauf legen, dass diese Shakespeare-Paraphrase kein unterhaltendes Musical, sondern eine tief tragische Geschichte ist. Tatsächlich mutet der (vermutlich gar nicht anachronistische) Kampf junger Menschen gegeneinander, die Studie einer tief sitzenden, ererbten Feindschaft immer wieder beklemmend an. In der Szene rund um „I like to be in America“ drückt die Regisseurin dann nachdrücklich auf das Migranten-Problem. Im übrigen erreicht die Inszenierung nichts an vielleicht beabsichtigter Nachdenklichkeit, sondern vor allem Zentnerschwere.
de Beers beste Idee war zweifellos die Zweisprachigkeit: Sie ließ die Sprechszenen auf Deutsch spielen (in der Prawy-Übersetzung), damit das Publikum bei Details der Handlung nicht außen vor bleibt, aber in englischer Originalfassung singen, was man nicht besser hätte lösen können, so perfekt passen die Texte von Stephen Sondheim und Bernsteins Musik zusammen.
Obzwar eine zutiefst tragische Liebesgeschichte, die an den „politischen“ Gegebenheiten scheitert, ist die „West Side Story“ ein dem Entertainment verpflichtetes Werk. Nicht so in dieser Inszenierung, die auf szenischen Minimalismus setzt. Bühnenbildner Christof Hetzer durfte vor durchwegs düsteren Mauern nur das Allernötigste an Versatzstücken stellen, von Atmosphäre keine Rede, kein Hauch von New York, eine düstere Welt nirgendwo in reizlosen Alltagsgewändern (Jorine van Beek). Unnötigerweise wird rund um den Zukunftstraum von Tony und Maria („Somewhere“) plötzlich ein pastellfarbenes Haus aus dem Hut gezaubert, ein geschmackloser Kitschpunkt inmitten der Öde, der sicher nicht das Richtige aussagt.
Und da ist dann noch die Choreographie, die nicht von Jerome Robbins ist, sondern von Bryan Arias. Man möchte nicht sagen, dass sich das Team nicht mit Verve in die tänzerischen Vorgaben stürzt, aber die ungeheure Elastizität und Virtuosität, die mitreißende Stimmung des Originals wird nicht eine Sekunde lang erreicht.
Mag die Regisseurin de Beer ihre zahlreichen Protagonisten auch mit logistischem Können herumscheuchen, auch sie erzielt kaum wirkliche Spannung, und im Grunde spielt sich außer der Heldin absolut niemand in den Vordergrund. Die Amerikanerin Jaye Simmons ist bezaubernd in ihrer Verliebtheit und ergreifend in ihrer Liebe zu Tony und prunkt auch mit wirklich schöner Stimme. Ihr Liebhaber ist in Gestalt von Anton Zetterholm ein so braves Bubi, dass es schon wieder fad ist. Und dass man als Anita dermaßen unauffällig sein kann wie Myrthes Monteiro, ist schier unglaublich – für diese Rolle bekam Rita Moreno einst den „Oscar“! Zwei „Erwachsene“, Axel Herrig als wahrlich empathischer Doc und Nicolaus Hagg als durch und durch zynischer Detective Schrank zeigen, wie man seine Rollen (aus eigener Kraft?) in den Vordergrund rückt, während keiner der jungen Leute wirklich die Möglichkeit fand zu reüssieren.
Ben Glassberg dirigierte die Musik, die (im Unterschied zu „Candide“) durch und durch „original“ Bernstein ist, seine unverkennbare Musiksprache, und man kann ein Drittel bis die Hälfe der „Nummern“ zu wahren Hits erklären (auch wenn „Lennie“ nicht nur ein Meister des tragischen Aufjaulens, sondern auch des musikalischen Kitsches war) – er wirkt einfach. Vielleicht war auch das der Grund, dass das Publikum der zweiten Vorstellung den Abend, der eine Graupause eines schillernden, strahlenden Werks ist, feierte, als hätte die „West Side Story“ an diesem Abend alle ihre Qualitäten entfalten dürfen…
Renate Wagner