TadW George Benjamin WRITTEN ON SKIN – 16.6.2013 (Premiere 14.6.)
Foto: Armin Bardel
Zum Abschluss ihres diesjährigen Musiktheaterprogrammes zeigten die Wiener Festwochen als Koproduktion mit der Nederlandse Opera Amsterdam, dem Théâtre du Capitole, Toulouse, dem Royal Opera House Covent Garden und dem Teatro del Maggio Musicale Fiorentino, Florenz die am 14. Juli 2012 im Rahmen des Festivals d’Aix-en-Provence uraufgeführte Oper des am 13. Januar 1960 geborenen britischen Komponisten George William John Benjamin als österreichische Erstaufführung. Dessen knapp 40 minütiger musikdramatischer Erstling mit dem Titel „Into the Little Hill“ wurde 2006 uraufgeführt und im Rahmen der Wiener Festwochen 2008 im Jugendstiltheater Am Steinhof gezeigt.
Seine erste große Oper Written on Skin wurde am 7. Juli 2012 im Grand Théâtre de Provence im Rahmen des Festivals d’Aix-en-Provence uraufgeführt. Von dieser Besetzung blieben für das Gastspiel in Wien nur Barbara Hannigan als Agnès und Allan Clayton als Angel 3 bzw. John erhalten. Kent Nagano übernahm die musikalische Leitung, die der Komponist noch bei der Uraufführung hatte. Wer den französischen Sender Mezzo empfangen konnte, durfte dieser Uraufführung beiwohnen.
Die knapp 90minütige Oper in drei Teilen und 15 Bildern stellt eine Parabel über die Grenzen der Macht dar. Der Text stammt, wie schon bei Benjamins Erstling, von dem britischen Dramatiker Martin Andrew Crimp (geb. 14. Februar 1956). Dieser wählte für beide Libretti rein formal gesehen eine Mischform aus Erzählung und Dialogen, die sich gesprächsweise zwischen den Akteuren ergeben.
Der Stoff geht auf ein „Razo“, ein kurzes Stück okzitanischer Prosa eines unbekannten Autors aus dem 13. Jhd. zurück, welches das Leben des katalanischen Troubadours Guillem de Cabestanh (1162-1212) beschreibt. Er soll der Liebhaber von Soremonda, der Gattin von Raimon de Castel-Roussillon gewesen sein. Als dieser den Ehebruch bemerkte, ließ er seiner ungetreuen Gattin das Herz ihres Liebhabers zum Mahle vorsetzen. Als sie erfährt, was sie eben verspeist hat, stürzt sie sich aus dem Fenster. Literarisch taucht das Motiv des „Cœur mangé“ immer wieder auf: So etwa in Giovanni Boccaccios Decamerone, später in der sog. Bremberger-Ballade aus dem 16. Jhd., in den Cantos von Ezra Pound (1885 – 1972) und in abgewandelter Form in Peter Greenaways Filmklassiker aus dem Jahr 1989 Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber.
Martin Crimp überlagerte nun die mittelalterliche Geschichte mit heutigen Szenen, in denen Engel das Geschehen verfolgen, vereinzelt in die Handlung eingreifen und im Übrigen als Requisiteure und Garderobiere agieren: Ein Landedelmann lädt einen jungen Künstler in sein Haus. Es entsteht eine Situation, die der im ersten Akt der Walküre ähnelt. Eine fatale Dreiecksbeziehung bahnt sich an. Der Maler soll in einem Buch Hölle und Paradies in Bildern darstellen. Die Frau des Gutsherrn, die Analphabetin ist, beeinflusst den Inhalt des Buches indem sie den Maler verführt und versucht, dadurch sich aus der Munt ihres Mannes zu befreien. Dieser Versuch endet für sie und ihren Geliebten letal.
Der Komponist verwendete für seine Vertonung ein volles Orchester aus 60 Musikern, das noch so seltene Instrumente wie Glasharmonika (Verrophon), Viola da Gamba, Bassklarinette, Kontrabass-Klarinette und Kontrafagott umfasst. Neben dem bereits genannten Olivier Messiaen, fiel mir bei der ersten Arie von Agnès sogleich auch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Cantus Arcticus, op. 61 von Einojuhani Rautavaara auf. In der Wiederholung unzusammenhängender Textsegmente erinnert Benjamin auch an Leoš Janáček. Und natürlich hört man stellenweise auch Alban Berg heraus. Durch den leuchtenden Farbenreichtum seiner Partitur verdichtet sich auch das Bühnengeschehen, das sich verschiedenen Zeitebenen entwickelt.
Die Regisseurin Katie Mitchell hat die grausame Geschichte besonders einfühlsam im Bühnenbild von Vicki Mortimer entwickelt. Wir sehen eine Guckkastenbühne, die aus vier Zimmern besteht. Zwei im unteren Teil der Bühne, zwei darüber. Auf der linken Ebene spielt sich das Geschehen der Angels ab, die den raschen Szenenumbau und Kostümwechsel der Sänger bewerkstelligen. Rechts ist das Wohn- bzw. Schlafzimmer im Hause des Protectors. Mehrere Bäume, oder sind es symbolische Welteschen, wachsen durch den Plafond seiner Wohnung. Die beiden oberen Räume werden kaum genutzt. Einmal zeigt sich der getötete Boy mit blutender Brust im linken Raum und einmal dient der rechte Raum, damit Agnès aus dem Fenster springen kann. Diese Räume werden von Jon Clark meist einzeln beleuchtet.
Barbara Hannigan als gedemütigtes Weibchen Agnès wartet mit einer äußerst expressiven Stimme, die auch in der enormen Höhe noch leuchtet, auf. Angel 1, vom Protector Audun Iversen als „Boy“ tituliert, entfacht in ihr den Drang nach leidenschaftlicher Liebe. Anstelle von Bejun Mehta, der die Uraufführung gesungen hatte, war in Wien der 1979 in York geborene Countertenor Iestyn Davies als „Boy“ zu erleben. Gegenüber Mehta kam ihm seine knabenhaft androgyne Ausstrahlung und seine im Vergleich ansprechendere saubere Stimmführung zu Gute. Indem er die Leidenschaft der geknechteten und völlig unterdrückten Gutherrin entfacht, erinnert er Dionysos, den Gott der Ekstase.
Der Norwegische Audun Iversen war als Protector ein äußerst unsensibler Gatte und Gutsherr mit dunklem Bariton, der schon mal auch den Knaben küsst, um nachvollziehen zu können, was seine Gattin an diesem „Boy“ so verzaubert.
Victoria Simmonds und Allan Clayton ergänzten noch rollengerecht und stimmlich einwandfrei in den kleineren Rollen als Angel 2 und 3 bzw. Marie und John.
Vier Schauspieler Laura Anne Harling, Sarah Northgraves, David Alexander und Peter Hobday nennt das Programmheft noch, die als Angel-Archivists fungieren. Gemeinsam mit Angel 1-3 kommt ihnen die Funktion des Chors in der antiken Tragödie zu. Sie begleiten die Akteure und entsenden einen von ihnen als „the Boy“ in das lieblos gewordene Haus des Gutsherrn.
Kent Nagano brachte bei seinem Debüt in Wien das Orchester des Klangforum Wien zu eindrucksvoller Interpretation moderner Musik.
Das Publikum der Reprise nahm an Kannibalismus keinerlei Anstoß und applaudierte völlig zu Recht begeistert allen teilhabenden Künstlern.
Harald Lacina