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WIEN / Staatsoper: Tschaikovskis EUGEN ONEGIN

Diese Inszenierung spielt (noch) nicht für die Galerie

Andrè Schuen (Eugen Onegin) und Nicole Car (Tatjana). Alle Fotos: Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

WIEN / Staatsoper: Tschaikowskis EUGEN ONEGIN

Premiere

25. Oktober 2020

Von Manfred A. Schmid

Auch die dritte Premiere der Startsaison von Bogdan Roscic ist eingekaufte Abverkaufsware. Der nun als Ersatz für die umstrittene, bisher im Repertoire stehende Produktion dargebotene Eugen Onegin, in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov, kam schon 2006 in Moskau heraus und war längst an anderen Häusern zu sehen. Dass man von einem Haus in der Größe der Wiener Staatsoper auch eigenständige Innovationen erwarten dürfte, wird sich irgendwann wohl auch bis zum Herrn Direktor durchsprechen. Vorerst erweist er sich aber nur als vielgereister, umtriebiger Schnäppchenjäger. Ob dieser Eugen Onegin allerdings wirklich ein Schnäppchen war, weiß man nicht so genau. Das wird sich erst herausstellen. Immerhin musste – musste? –  für die Premierenvorstellung eigens der Slowakische Philharmonische Chor angeheuert werden. Wenn das in weiterer Folge auch bei den kommenden Vorstellungen über Jahre hindurch erforderlich sein wird, könnte das recht teuer werden. Warum in alles in der Welt hat man dazu nicht den hauseigenen Chor, um den uns viele beneiden, heranziehen können?

Wenn eine alte Produktion in ein anderes Haus verlegt wird, sind allfällige Adaptierungen oft unausweichlich. Doch gerade da hat der Regisseur, der auch für das Bühnenbild verantwortlich zeichnet, einen folgenschweren Fehler begangen und keine Anpassungen vorgenommen. Die Folge dieses Versäumnisses: Weil der Bühnenraum in der Höhe stark beschnitten wird, ist von der Galerie aus, ab der 2. Reihe etwa, die Sicht auf das Geschehen empfindlich eingeschränkt. Der ganze erste Aufzug wird so zu einem ständigen Ärgernis. Schon im ersten Bild ist das Gesinde, das in dieser Inszenierung – merkwürdigerweise – mit der Herrschaft zusammen an einem riesengroßen, länglich-ovalen Tisch sitzt, zur Hälfte – nämlich auf der gegenüberliegenden Tischseite – nur mit abgeschnittenen Köpfen zu sehen. Wenn Lenski und sein mitgebrachter Gast Eugen den Saal betreten, sieht man zunächst für lange Zeit nur deren Füße bzw. Schuhe. Und da sich in weiterer Folge vieles hinter dem Tisch abspielt, geht die Parade der abgeschnittenen Köpfe lustig weiter und gipfelt darin, dass die innerlich durch ihre Begegnung mit Eugen aufgewühlte Tatjana auf den Tisch klettert und dort herumtänzelt und singt. Auch da sieht man nur ihre Zehen und, wenn’s hochkommt, maximal bis zu den Knöcheln. – Warum unternimmt ein Regisseur, bevor er sich an die Arbeit macht, nicht verpflichtend einen Rundgang durch das Haus, um sich auf die räumlichen Verhältnisse einstellen und nötige Anpassungen an seinem Regiekonzept vornehmen zu können? Hier besteht jedenfalls akuter Handlungsbedarf. Da muss, um die nächsten Vorstellungen für weite Teile des Publikums konsumierbar zu machen – dringend eingeschritten werden. Diese Inszenierung, so wie sie sich bei der Premiere zeigt, spielt jedenfalls nicht für die Galerie. Derzeit handelt es sich um eine Inszenierung, tauglich nur für extreme Corona-Beschränkungen, wenn Besucher nur noch im Parkett und Parterre sitzen dürfen, wie es bei Myeers Abschieds-„Gala“ Ende Juni der Fall war.

Nicole Car (Tatjana) in der Briefszene

Nicht sehr tragfähig bei ihrer Umsetzung erweist sich die Grundidee des Regisseurs, für alle Akte ein Einheitsbühnenbild zu verwenden. Bereits im zweiten Bild, das nach Intimität ruft, sitzt Tatjana in der Briefszene mutterseelenallein am riesigen Tisch im riesigen Saal. Als die ihr seit der Kindheit vertraute Kinderfrau Filipjewna – natürlich zunächst wieder nur als Torso wahrnehmbar – hereinkommt, wickelt sich ihr vertrautes Gespräch in großer Distanz ab. Von der dafür angebrachten Kammerspielatmosphäre – das Gemach der jungen Frau – also keine Spur. Auch das Treffen mit Eugen, nachdem er ihren Brief mit den Liebesschwüren bekommen hat, muss im großen Saal an eben diesem Tisch stattfinden, und nicht, wie im Libretto vorgesehen, im Garten. Vollends befremdlich ist, wenn dann auch das Duell, das sich im Übrigen nicht als Duell, sondern als Gerangel zwischen Lenski und Onegin herausstellt, in dessen Verlauf sich ein Schuss aus einem Gewehr (!) löst und Lenski tötet, in den ominösen Saal verlegt wird. Dafür wird das Tischtuch bis zur Hälfte des Tisches zusammengefaltet. Das dadurch sichtbare Holz – so wohl die Intention des Regisseurs – muss als Naturkulisse genügen.

Einen Vorteil kann man dem Regisseur beim konsequenten Festhalten an der Einheitsbühne allerdings zubilligen: Intime Ereignisse und Beteuerungen, in denen die betreffenden Personen – in erster Linie die Titelfigur und, im dritten Aufzug, auch Tatjana – üblicherweise monologartig Rechenschaft über ihr Innerstes, ihre geheimen Träume und Ängste ablegen, werden von Tcherniakov so schamlos ver-öffentlicht und ans Tageslicht gezerrt. Das entspricht etwa dem heute zu konstatierenden, offenen Umgang mit den sozialen Medien, in denen es keine Privatgeheimnisse mehr zu geben schdeint. Und in diese moderne Gesellschaft passt auch Eugen Onegin hinein. Er ist kein bedeutender, wichtiger Angehöriger der Oberschicht, sondern ein it-boy, die Machoversion eines mediengeilen it-girls. Er inszeniert seine Auftritte in der Öffentlichkeit und nimmt sich unheimlich wichtig. Er gaukelt den erfahrenen, weltmännischen Lebemann vor und hat damit, in der Provinz, auch Erfolg. Als er aber, nach langer Abwesenheit, wieder in der Öffentlichkeit in Erscheinung tritt und in die Abendgesellschaft im Hause des Fürsten Gremin uneingeladen eindringt, wird er von allen – auch vom Personal – ignoriert. Als er schließlich – wiederum unaufgefordert – eine von Selbstmitleid triefende Lebensbeichte ablegen will, wenden sich die Gäste von ihm, gelangweilt gähnend, ab. Seine Zeit ist abgelaufen. Zurück bleibt, als ihn auch Tatjana abweist, obwohl sie ihn liebt, ein Häufchen Elend. Er fuchtelt mit der Pistole herum, sie abwechselnd gegen sich und gegen Tatjana richtend. Zum Schuss kommt es nicht. Dieser Eugen Onegin ist kein Mann der Tat, sondern nur einer der großen, hochtrabenden Worte.

Selten hat man Eugen Onegin von Beginn an so unsympathisch erlebt. Das neue Ensemblemitglied Andrè Schuen ist bei seinem Hausdebüt dafür eine ideale Besetzung. Eitel stolziert er – in seinem eleganten schwarzen Anzug in der ländlichen Umgebung auf dem Gut der Eltern von Tatjana herum, stets darauf bedacht, wie ein vielbestaunter Gast aus der großen Welt anzukommen. So gibt er sich auch in seinen Begegnungen mit Tatjana und mit Olga. Ein gewissenloses Ekel, narzisstisch und nur auf sich bezogen. Tatjanas Liebesschwüre schmeicheln seinem Ego, aber dieses Mädchen passt nicht in seine Lebensentwürfe. Punkt. Seine Überlegenheit spielt er ihr gegenüber brutal aus. Und ebenso gewissenlos treibt er seinen angeblichen Freund, den sensiblen Dichter Lenski, in den Tod. Dass er mit seiner schnöden, von oben herab belehrenden Abfertigung mit Tatjana die große Chance seines Lebens verpasst hat, dämmert ihm erst, als es längst zu spät ist und er erkennen muss, dass sein Leben verfehlt ist. Dazu passt der etwas raue, zuweilen kratzige Bariton von Schuen, der aber auch zu schmeichelnden Tönen fähig ist. Die große, elegante, elektrisierende Kraft hat seine Stimme nicht, sie wäre für das Profil, das Onegin in dieser Inszenierung verpasst wird, aber auch tatsächlich fehl am Platz.

Nicole Car (Tatjana), Dimitry Ivashchenko (Gremin), Andrè Schuen (Onegin)

Bogdan Volkow liefert das ausgefeilte Porträt eines feinfühligen Künstlers, schwärmerisch und der harten Realität des Lebens wenig gewachsen. Seine schwermütige Arie angesichts des Duells und der damit verbundenen Todesgedanken, gelingt vorzüglich. Wie er in der Höhe pianissimo seiner verletzten Seele Ausdruck verleiht, vermag zu berühren.

Kurzfristig als Tatjana ist Nicole Car eingesprungen. Sie ist als junges Mädchen, das sich in einem Brief weit aus dem Fenster der Gefühle hinauslehnt, etwas blass in der Gestaltung und auch im letzten Aufzug nicht so imponierend, wie man die zur Großfürstin aufgestiegene Frau vom Lande üblicherweise präsentiert bekommt. Insgesamt aber eine achtbare Leistung. Stimmlich und auch darstellerisch überzeugender ist Anna Goryachova als Olga. Naiv, aber nicht ganz so unschuldsvoll, wie es den Anschein hat. Ein frischer, wandlungsfähiger Mezzo.

Die starke Persönlichkeit und Bühnenpräsenz, die man gewöhnlich mit dem Auftritt des Fürsten Gremin verbindet, wird man bei Dimitry Ivashchenko vergeblich suchen, dafür ist sein Bass zu wenig russisch, sprich: „schwarz“ ausgeprägt. Die emotional brisante Spannung, die das Aufeinandertreffen der drei Protagonisten Tatjana, Onegin, Gremin prägt, will sich daher ebenfalls nicht einstellen.

Helene Schneidermann ist eine nicht sehr eindrückliche Larina, Larissa Diadkova hingegen kann ihrer Kinderfrau Filipjewna ein eigenständiges Profil verleihen und verströmt ein warmes Timbre, dass einen in seinen Bann zieht. Als Saretzki tritt der bewährte und vielseitige Bass Dan Paul Dumitrescu rollendeckend in Erscheinung, dass er als Sekundant Lenskis, als man auf das Eintreffen Onegins zum an beraumten Duell noch etwas warten muss, auf einem Sofa ein kleines Schläfchen hält, nimmt man ebenso verwundert zur Kenntnis wie einige andere Regieeinfälle Tcherniakovs, z.B. die äußerst seltsam ausgeführte Arie Triquets, die von Lenski gesungen wird, während ein mediokrer Revuekünstler dazu eher unbeholfen agiert.

Tomas Hanus, der musikalische Leiter der Premiere, versteht sich offenbar mehr auf die lautstarke Untermalung der emotionalen Ausbrüche als auf die zarten lyrischen Augenblicke. Als er es im ersten Aufzug, als Tatjana nach ihrer brieflichen Liebesbekundung verwirrt und erregt ist, so richtig krachen lässt, schreckt man hoch: Das hätte man dem zartbesaiteten Mädchen, trotz offenkundiger Gefühlswallungen, so nicht zugetraut…

Viel Applaus, z.T. wohl auch aus Dankbarkeit, die leidige, rund um einen Eislaufplatz angesiedelte Falk-Richter-Inszenierung endlich losgeworden zu sein. Dafür nimmt man schon ein paar Unstimmigkeiten in Kauf. Auch heftige Jubelrufe fehlen nicht. Da viele davon überraschenderweise von der Galerie kommen, darf man annehmen, dass da – angesichts der eingangs geschilderten elendigen Sehverhältnisse – wohl Claqueure im Einsatz sind.

26.10.20

 

 

 

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