Foto © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor
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STREAM via ARTE Concert
MAHLER, LIVE
Live Übertragung: 4. Dezember 2020
Die Bedingungen, unter denen die neue Direktion der Staatsoper antreten musste, waren die denkbar härtesten und ungünstigsten. Vor allem für den neuen Ballettchef Martin Schläpfer, der versäumt hat, sich als Person gleich mit der ersten Premiere ins Zentrum zu stellen: Man erinnert sich, er brachte in der Volksoper zuerst einen Abend mit „holländischen“ Klassikern, sehr wirksam, aber nicht sehr aussagekräftig.
„MAHLER, LIVE“ hätte schon im November Premiere haben sollen und wurde jetzt in das Streaming / Fernseh-Notprogramm der Staatsoper aufgenommen, was zweifellos eine hervorragende Idee ist, um die Arbeit von Künstlern nicht verloren gehen zu lassen. Und schließlich wird es Zeit, dass sich der Choreograph, der von der Rheinoper Düsseldorf / Duisburg kommt und von manchen schon als „Gottseibeiuns“ betrachtet wurde, endlich selbst präsentiert. Er tat es mit einer Uraufführung für Wien und für das Ensemble, mit dem er erstmals zusammen arbeitete.
Olga Esina Foto © Wiener Staatsballett / Ashley Taylor
Aber Mahlers Vierte Symphonie, die hier einfach „4“ heißt, dauert nur eine Stunde, also musste man etwas dazu finden. Für den Doppelabend (also letztendlich doch nur ein „halber“ Schläpfer) hatte der neue Chef den greisen Hans van Manen, den er offenbar tief verehrt, gebeten, seinen eigenen Klassiker „Live“ für Wien zu adaptieren, was auch geschah. Es handelt sich dabei um einen mehr als 40 Jahre alten Klassiker der Tanzgeschichte, denn van Manen hat sich (als noch nicht jeder Regisseur Video-Leinwände auf die Bühne packte und die Zuschauer total verwirrte) damals, 1979, das erste Video-Ballett der Geschichte ausgedacht. Nicht die Musik ist hier entscheidend, die Stücke von Liszt (am Flügel: Shino Takizawa) geben wenig vor. Aber der Dialog zwischen der Kamera (seit Menschengedenken hier geführt von Henk van Dijk) und zuerst der Tänzerin auf der Bühne ist wirklich ideenreich, weil die Verdoppelung nicht nur die andere Seite dessen bietet, was das Publikum live (wenn es dieses einmal geben wird…) sieht, sondern auch den Ausschnitt, auf den Fuß, auf die Hand. Und dann erweitert sich der Raum, die Tänzerin (es ist die unnachahmlich ästhetisch elegante Olga Esina) geht von der Bühne in den Zuschauer-Bereich, in die Gänge, das erste Foyer, trifft einen Tänzer (Marcos Menha), dem sie auch im Ballettsaal wieder begegnet, hat bei den Versuchen, mit ihm „pas de deux“ zu agieren, keinen Erfolg – und geht schließlich, in Ballettschuhen, nur mit einem dünnen Mantel über dem Kleidchen, aus dem Haus, Richtung Ringstraße, verschwindet irgendwo vor dem Bristol… (Und man kann nur hoffen, dass das an diesem eiskalten Abend nicht „echt“, sondern aufgezeichnet war.)
Und dann endlich die dringend erwartete Begegnung mit Martin Schläpfer, der sich schon früher mit Mahler (er choreographierte dessen „Siebente“) auseinander gesetzt hat und sich diesmal der „Vierten“ zuwandte, die ja nun wirklich ein hintergründiges Werk ist. Hier scheinen vor allem die hellen Blechbläser immer solistisch zu jubilieren, aber die Musik schrammt dennoch vielfach an die Atonalität an. Es ist etwas Verstörendes in diesem nicht wirklich heiterenWerk, das den Choreographen offenbar besonders gereizt hat. So geht er über weite Strecken mit der Musik, ist sogar ungemein musikalisch, wenn er sowohl Solisten wie Paare und das Ensemble vielfach als exakte Einheit einsetzt – und verweigert sich an anderer Stelle der Musik, zu der er manchmal im Rhythmus mit den Füßen klopfen oder mit den Armen schwingen lässt, wiederum völlig. Da wird dann auch ein Bewegungskanon offenbar, der Verkrümmungen zeigt oder der Paare in Disharmonie schickt.
Jene Kenner des Wiener Staatsballetts, die zu jedem Gesicht auch den Namen wissen, werden erkennen, wem hier und da eine solistische Aufgabe zugedacht ist, aber es ging Schläpfer wohl zu seinem persönlichen Einstand darum, mit allen (oder so vielen wie möglich) zu arbeiten, keine Stars heraus zu stellen, sondern ein überzeugendes Kollektiv zu schaffen, was ihm – mit bemerkenswerter Präzision übrigens – gelungen ist.
Freilich täte man sich als Zuseher leichter, wenn man im Lauf einer Stunde irgendeine „Geschichte“, irgendeine Aussage erkennen könnte, aber man fühlt keine Dramaturgie, an die man sich anhalten kann. Doch es ist Tanz, der für und wider die Musik, die er gewählt hat, agiert, und das ist doch auch was. Axel Kober zeigte, dass er natürlich auch eine Mahler-Symphonie „kann“ (das Orchester sowieso), und Slávka Zámečníková bemühte sich mit einigem Erfolg um Mahlers Jubeltöne im letzten Satz.
Wer weiß, wie begeistert das Publikum reagiert hätte? Im leeren Haus dankten alle, als hätten sie „live“ Menschen vor sich, und konnten doch nur die Zuschauer meinen, die vor ihren Geräten saßen. Aber einmal wird die Normalität wieder kommen… sie muss, muss, muss.
Renate Wagner