WIEN / Staatsoper: ELEKTRA von Richard Strauss
Wiederaufnahme – 66. Aufführung in dieser Inszenierung
8. September 2020
Von Manfred A. Schmid
Uwe Eric Laufenbergs einengende Kohlenkeller-Inszenierung samt Paternoster-Aufzug ist endlich entsorgt, die Wiederaufnahme von Harry Kupfers oft genug nachgetrauerter Inszenierung aus dem Jahr 1989 bietet den insgesamt 22 mitwirkenden Sängerinnen und Sängern wieder genügend Raum zur Entfaltung ihrer stimmlichen und darstellerischen Bestimmung, der sie mit wechselndem Geschick nachkommen. Die im Bühnenbild von Hans Schavernoch über das Geschehen dominierende übergroße Statue Agamemnons markiert trefflich die gehetzte Atmosphäre dieser einaktigen Oper nach einem Libretto von Hugo von Hofmannsthal. Sie kommt nur in wenigen Momenten kurz zur Ruhe, um dann, wie es einer griechischen Tragödie gebührt, stets erneut unerbittlich auf das blutige Finale zuzurasen. Von der ersten Note bis zum letzten Ton, der wie ein Aufschrei klingt und keine klärende Katharsis, sondern – allen Jubeltänzen ob des endlich vollzogenen Racheakts zum Trotz – nur seelische Verwüstung und eine folgende, nicht enden wollende Gewaltspirale ankündigt, kommt aus dem Orchestergraben eine emotional höchst aufgeladene, elektrisierende, aufpeitschende Musik. Herr der entfesselten Klänge ist Franz Welser Möst, der unbeirrt Druck erzeugt und es so einigen Protagonisten auf der Bühne zuweilen nicht leicht macht, sich durchzusetzen. Da dies aber in Extremsituationen der emotionalen bzw. dramatischen Zuspitzung geschieht, ist das auch als Hinweis darauf zu verstehen, dass das Individuum gegenüber dem verhängnisvollen Schicksal, das über ihn hereinbricht, machtlos bleibt. Und das könnte in diesem Fall durchaus auch den Intentionen des Komponisten entsprechen. Beim Schlussapplaus, bei dem – entgegen den Corona-Verhaltensregeln – wieder zahlreiche Bravorufe zu vernehmen sind, wird der Dirigent am meisten gefeiert. Die Freude über seine Rückkehr an die Wiener Staatsoper ist also groß und unüberhörbar.
Ricarda Merbeth, die die Elektra an großen Häusern wie etwa der Mailänder Scala schon mit Erfolg gesungen hat, ist an der Wiener Staatsoper erstmals in dieser Partie zu erleben. Mit ihrem hellen, etwas schweren, vibratoreichen Sopran und mit glasklarer Wortdeutlichkeit durchdringt sie die dichten Klangwogen, die über sie oft orkanartig hereinströmen. Es gelingt ihr, die verschiedenen Gefühlszustände von höchster Erregtheit über Phasen der innehaltenden Reflexion und pulsierender Erotik (Letzteres in ihrem manipulativen Zwiegespräch mit ihrer Schwester) bis hin zu schierer Verzweiflung glaubhaft darzustellen: Eine ruhelose, von ihrer Rachemission angetrieben Frau. Der markerschütternder Aufschrei angesichts des vollzogenen Muttermord wirkt dann weniger wie ein Triumphgeheul, sondern ist der erlösende Moment für lange unterdrückte Gefühle. Darstellerisch ist, vor allem in der Schlussszene, noch Platz nach oben. Bei ihrem ungewollten (?) Selbstmord verstrickt sie sich hilflos in den Seilen, die von der Statue ihres nunmehr endlich gerächten Vaters herabhängen. Das, was ihr zuvor inneren Halt und Sinn verliehen hat, eine Art Nabelschnur zum übermächtigen Vater, wird so zu ihrem Verhängnis.
Gespannt war man auf das Wiener Rollendebüt als Chrysothemis von Camilla Nylund, die an der Staatsoper nicht nur als eine fantastische Kaiserin in Die Frau ohne Schatten, sondern auch eine akklamierte Salome in Erinnerung ist. Ganz kann die schwedische Sopranistin die hohen Erwartungen nicht erfüllen. Die von Hofmannsthal und Strauss feinsinnig ausgestattete Figur einer erwartungsfrohen, liebeshungrigen jungen Frau, die ein einfaches bukolisches Leben außerhalb der belastenden Palastmauern anstrebt und sich nicht aktiv am Rachefeldzug ihrer Schwester beteiligen will, kommt in ihrer Darstellung nicht so überzeugend zur Wirkung. Wie sie dann allerdings angesichts des Todes ihrer Mutter und ihres verhassten Stiefvaters Aegisth unverhofft in einen als Tanz stilisierten Siegesrausch und Siegestaumel verfällt, verfehlt seine Wirkung nicht. Stimmlich kommt die höhensichere Sängerin mit den Anforderungen dieser Partie nicht ohne Einwand zurecht. Da fehlt ihr vor allem das Fundament in den tieferen Lagen.
Doris Stoffel, sowohl als Herodias wie auch als Klytämnestra international bewährt, ist eine seltsam verschrobene, von körperlichen Gebrechen und grausigen Träumen heimgesuchte Frau. Auch stimmlich verleiht ihr die deutsche Mezzosopranistin eine merkwürdige Gewandung. Schöngesang ist hier ohnehin nicht unbedingt gefragt, und so erzielt sie bei ihrem Auftritt in der intensiven, kammerspielartigen Auseinandersetzung mit ihrer Tochter Elektra eine unheimliche Wirkung. Verschleifungen bei der Phrasierung und andere stimmliche Eigenheiten unterstreichen die Zerrissenheit und das schlechte Gewissen dieser Kreatur.
Der australische Bassbariton Derek Walton war im Sommer bereits unter Welser-Möst in der Elektra der Salzburger Festspiele im Einsatz. Sein Staatsoperndebüt als Orest kann stimmlich überzeugen, darstellerisch ist er ein sympathischer, ganz und gar nicht heldenhaft auftretender Mann, der die Pflicht, den Tod seines Vaters zu rächen, einfach auf sich genommen hat, weil das eben sein muss, was ihn von seiner geliebten Schwester Elektra unterscheidet, für die die Rache ihr einziger Lebensinhalt ist. Das Geheimnisvolle, das diese Rolle oft umweht, wird man hier vergeblich suchen.
Jörg Schneider, aus dem Ensemble kommend, ist ein gesanglich wie auch darstellerisch guter Aegisth, der sich als eitler, wohlgefälliger, eigentlich aber schwacher Charakter offenbart. Die vielen Rollen aus der weiblichen und männlichen Dienerschaft sind fast durchwegs mit Kräften aus dem Haus besetzt, zum Teil geradezu luxuriös. Auffallend darunter u.a. Monika Bohinec, Margaret Plummer und Regine Hangler als Dienerinnen sowie Markus Pelz und Dan Paul Dumitrescu als Pfleger und alter Diener. Aus dem Opernstudio kommen Anna Nekhames (Die Vertraute) und Stephanie Maitland (Schleppenträgerin).
Viel Applaus, der zum Teil nicht nur den dargebotenen, insgesamt recht homogenen Leistungen gilt, sondern wohl auch die Freude bekundet, endlich wieder in die Oper gehen zu können.
9.9.2020