WIENER STAATSOPER: DIE MEISTERSINGER VON NÜRNBERG. Rèsumè nach der letzten Vorstellung der Serie und einige Gedanken zum „halbvollen Glas“.
In der vierten Vorstellung wurden fast alle Erwartungen, mit denen wir zum ersten Abend gekommen sind, erfüllt. Es begann schon bei der Ouverture – so fein ausgearbeitet und herrlichch gespielt haben wir uns die Meistersinger mit den Wiener Philharmonikern unter Simone Young vorgestellt. Die vielgeliebten Vorzüge dieses Orchesters waren im Übermaß vorhanden – in der Folge sorgte eine feinfühlige Sängerbegleitung für unangestrengte Sängerleistungen – besonders profitierte Christina Carvin, die diesmal deutlich weniger scharfe Höhen hatte: Sie ist bereits eine gute Eva!
Auch James Rutherford (Hans Sachs) wirkte wesentlich lockerer und es gelang ihm ein sehr berührender Fliedermonolog. Die etwas kleine Stimme war nur mehr ein geringes Manko. Norbert Ernst (David) wirkte nochmals um eine Stufe klangschöner, sicherer und mit souveräner Pianokultur bis in die höchsten Höhen.
Ain Anger (Veit Pogner), Adrian Eröd (Sixtus Beckmesser) und Boaz Daniel (Fritz Kothner) bestätigten die hervorragenden Leistungen der ersten drei Vorstellungen.
Das Wunder lieferte Johan Botha: Donnerstag glaubten wir noch, dass man den Stolzing nicht schöner singen kann; heute wissen wir: Man nicht, aber Botha schon – eine Sternstunde!
Nach etwa 18 Stunden Wagner in diesen vier Vorstellungen und weil ja der besinnliche Advent zum Sinnieren anregt, möchten wir noch einige grundsätzliche Gedanken – unter Berücksichtigung des Mottos vom Merker-Flyer: „Verrückt nach Oper“ anfügen.
Wir haben ein wunderbares Orchester und einen beeindruckenden Chor unter der Leitung einer sehr geschätzten Dirigentin gehört – vieles war atemberaubend schön, über manche unsensiblen, überlauten Stellen haben wir uns geärgert. Mit Johan Botha und Adrian Eröd erlebten wir zwei Ausnahmekünstler, die in diesen Rollen derzeit wahrscheinlich unerreicht, aber ganz sicher unübertrefflich sind. Die Ensemblemitglieder Ain Anger, Norbert Ernst, Zoryana Kushpler und Boaz Daniel (Ex-Mitglied) erfreuten uns mit hervorragenden Darbietungen, James Rutherford als neuer Hans Sachs wuchs mit jeder Vorstellung besser in diese Riesenrolle hinein – in der wir schon einige renommierte Sänger beim „Eigehen“ erleben mussten und stellte absolut kein Ärgernis dar. Bei der Beurteilung von Christina Carvin sollte man bedenken, dass ein so hochgeschätztes Ensemble wie das der Wiener Staatsoper nicht vom Himmel fällt und dass es nötig ist, jungen Mitgliedern auch einmal grössere Rollen anzuvertrauen. Die Chance wurde genutzt, dass noch einige Mängel aufgetreten sind, sollte den positiven Gesamteindruck nicht ernsthaft stören.
Sensationell ist die Spielfreude der Meister, der Lehrbuben (und Mädchen) und der Bürger von Nürenberg, die in dieser denkmalschutzwürdigen Inszenierung von Otto Schenk in 18 Stunden keine Minute Leerlauf aufkommen ließen. Der Lebkuchen-Bäckermeister Niklaus Vogel dürfte wirklich ernsthaft erkrankt sein – er war bei allen vier Vorstellungen abwesend.
Bedenkt man, dass wir hier derzeit innerhalb von fünf Wochen zB die Weltklassetenöre Botha, Beczala, Florez und Gould sowie den Jahrhundert – Baritenor Placido Domingo erleben, können wir die momentan so beliebte Verunglimpfung der Wiener Staatsoper – mit den Attributen „Provinzbühne, Mittelmaß udgl“ nicht nachvollziehen. Wir wollen natürlich niemandem den gutgepflegten Frust oder seinen heiligen Zorn verleiden, meinen aber, dass das Glas deutlich mehr als halb-voll ist. Die Diskussion, ob die Wiener Staatsoper das beste, das drittbeste oder das 27.-beste Opernhaus der Welt ist, bringt für den Gast überhaupt nichts – für ihn ist doch nur entscheidend, ob und wie viele personlich beglückende Momente bereitet werden. Dabei kann sich der Besucher als potentieller Kritiker selbst nicht ganz aus der Verantwortung nehmen. Wenn ich Barockopern nicht mag, werde ich im Theater an der Wien nicht glücklich werden – deswegen das Haus negativ zu beurteilen, wäre aber zumindest nicht fair.
Nach unserem Empfinden erreicht die Staatsoper derzeit ganz locker die Karajan-Drittel-Formel – im Bewusstsein, dass die Beurteilung von „Sternstunde bis Zumutung“ sehr viele persönliche Aspekte beinhaltet. Der touristische Stellenwert der Wiener Oper und die Tatsache, dass selbst Weltstars hier um eine geringere Gage als an anderen „führenden Häusern“ auftreten sagt zwar nicht alles, ist aber als Indiz für die Bedeutung des Hauses durchaus relevant. Dass man vier Vorstellungen auf passablen Plätzen um insgesamt € 54,00 pro Person besuchen kann, relativiert den oft gehörten Vorwurf der „elitären Hochkultur“ und sollte auch einmal lobend erwähnt werden.
Auch auf die Gefahr hin, als „Schönschreiber“ zu gelten, outen wir uns als begeisterte, regelmäßige Besucher, die sehr oft (wie auch heute wieder) beglückt das Haus verlassen.
Maria und Johann Jahnas