
Anna Gabler als Agathe

Christopher Ventris als Max
WIEN/Staatsoper:
Carl Maria von Weber DER FREISCHÜTZ hoch zwei
8. Aufführung in der Inszenierung von Christian Räth
11.September 2018 ° Von Manfred A. Schmid ° Fotos: (C) M.Pöhn
Totgesagte leben eben länger
„Mir reicht´s“, stöhnt der von Versagensängsten gequälte, komponierende Jägersbursch Max laut Libretto einmal. Mit einem „Mir reicht´s“ reagierte auch die überwiegende Mehrheit der Rezensenten, als im vergangenen Juni die Premiere von Carl Maria von Webers romantischer Oper über die Bühne ging und im Zuschauerraum eine schon lange nicht mehr gehörte Buhruf-Orgie ausgelöst hatte. Das Ganze sei „kläglich gescheitert“, hieß es in den ÖO Nachrichten, „musikalisch und inszenatorisch missglückt“.
Gemach, gemach. Das letzte Wort über die Qualität dieser Inszenierung von Christian Räth war damit noch lange nicht gesprochen. Schon jetzt gibt es an der Staatsoper die Gelegenheit, diese zunächst in zur Gänze verteufelte Inszenierung erneut auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Und siehe da, in einer so gut wie runderneuerten Besetzung und mit einem kompetenten Dirigenten (Sebastian Weigle) im Orchestergraben nimmt sich das Ganze nun schon etwas anders aus. Erste Abschwächungen des vernichtenden Todesurteils in der vergangenen Saison konnten bereits registriert werden: Im neuen musikalischen Gewande erweise sich hier wieder einmal, so die Argumentation, „dass eine gelungene musikalische Interpretation die Akzeptanz für eigenartige Inszenierungen erhöht“. Da gebe ich meiner geschätzten Kollegin und meinem ebenso geschätzten Kollegen völlig Recht. Das Urteil wird ausgesetzt, eine neue Verhandlungsrunde hat begonnen. Nur: Die Unschuldsvermutung gilt hier nicht. Kunst ist nie unschuldig. Sie ergreift immer Partei.
Die meisten Kritiker ereiferten sich über den Grundeinfall des Regisseurs, Max in dieser Inszenierung als Jäger statt als Komponisten auftreten zu lassen. Genauer gesagt: Max ist ein jagender Komponist oder ein komponierender Jäger. Dabei hat Carl Maria von Weber selbst den Anstoß dazu gegeben: „Volltreffer!“ schrieb er voll Stolz nach der Uraufführung seines Werks. Ob es bei der Arbeit an der Oper auch Fehlschüsse gegeben hat, ist anzunehmen. Dass er auch – wie hier Max – an einer Schreibblockade gelitten hat, ist zwar nicht ausgeschlossen, aber angesichts seines Wesens wohl kaum anzunehmen. Aber deutsche Künstler und der deutsche Wald, das ist schon ein ganz besonderes und höchst komplexes Verhältnis. „Durch die Wälder, durch die Auen,“ singt Max im romantischen Überschwang, und verheddert sich unversehens im finsteren Tann. Dort packt ihn schiere Verzweiflung: Der Wald als das Geheimnisvolle, Unbekannte, Bedrohliche. Ein Wald voller Geheimnisse. Unheimlich und eine stete Gefahr: Rotkäppchen und der Wolf. Der Wolf und die sieben Geißlein. Und der Eichmann im Buchenwald.
Die Wolfsschlucht als Zentrums des Waldes wird als „das dunkle Reich“ und als „düsterer Abgrund“ bezeichnet. Da so ein Wald Angst macht, versuchen die Menschen ihn mit überlieferten Bräuchen, mit Hörnerklängen und anderen folkloristischen Mitteln zu zähmen. Aber Max hat den Glauben daran verloren, dass derartige Beschwörungsformeln tatsächlich noch etwas bewirken können, und sucht verzweifelt nach Alternativen. Wenn also ein deutscher Komponist der Romantik darangeht, den deutschen Wald in Musik zu fassen, dann geht das wohl nicht ohne Zähneklappern ab. Mag schon sein, dass davon etwas in die Partitur eingeflossen ist. „Übersehen Sie nicht, wie mir bei dem düsteren Hauptcharakter der Umstand zugutekommt, dass die halbe Oper im Dunkel spielt“, schrieb er höchst aufschlussreich an einen Freund.

Hans Peter Kammerer als Samiel und Falk Struckmann als Eremit
Max wird von Christopher Ventris gesungen und intensiv verkörpert. Dem in der Premierenbesetzung in dieser Partie eingesetzten und bei seinem (späten) Staatsoperndebüt viel bejubelten Andreas Schager steht er um nichts nach, macht es aber auf seine eigene, unnachahmliche Art. Ob es unbedingt nötig wäre, dafür einen Heldentenor einzusetzen, wurde in der Berichterstattung des Öfteren gefragt. Nun, es muss nicht unbedingt ein Wagnersänger sein, aber Tamino oder Florestan sollte er schon draufhaben. Und da Ventris alle drei Maximalkriterien erfüllt, ist bei ihm der Max bestens aufgehoben.
Thomasz Koniencznys kehliger, besser gesagt: gaumiger Bariton erweist sich als geradezu ideal für den sinistren Gegenspieler Caspar. Er verkörpert den Wald, die Welt der unbekannten bösen Mächte. Caspar ist der Ausgegrenzte, Unangepasste, dem man nicht über den Weg traut. Rothaarig und meist in Rot gekleidet. Dabei fällt auf: Oft ist auch Max so gekleidet, und umgekehrt gilt das ebenso. Eine klare Grenze zwischen dem dunklen Wald und der Siedlung am Waldesrand gibt es nämlich nicht. Es ist ein fließender Übergang. Und so verarbeitet Räth hier geschickt auch das für die Romantik so bezeichnende Motiv des Doppelgängers. Max und Caspar sind die beiden Seiten einer Medaille: Caspar verkörpert das Verdrängte, das Unbewusste, Unterbewusste von Max, und gemeinsam hämmern sie wie wild auf die Tasten des brennenden Klaviers. Wie ja auch bei Goethe Faust und Mephisto in ihrer Polarität als Einheit verstanden werden können.
Die Max zugedachte Braut Agathe verkörpert die romantisch verbrämte Unschuld. Doch auch sie ist vom ebenso geheimnisvollen wie unheimlichen Treiben im Vorfeld des erwarteten Probeschusses angesteckt. Voll Unruhe und Sorgen und von quälenden Albträumen heimgesucht, beobachtet sie das gehetzte, unbegreifliche und befremdlich abweisende Benehmen ihres Auserwählten. Anna Gabler changiert gekonnt zwischen diesen beiden seelischen Aggregatszuständen von hingebungsbereiter, hoffnungsvoller Liebe und unverhohlener Angst. Ihr zur Seite steht, sozusagen als quirliger Lichtblick in einem immer düsterer werdenden Umfeld, Chen Reiss als trotzig sich fröhlich gebärdender Kobold namens Ännchen. Beide erhielten Szenenapplaus, doch beim Schlussbeifall räumte Reiss den stärksten des Abends ab. Nur noch das fulminant aufspielende Staatsopernorchester und der Dirigent Sebastian Weigle sowie der stark auftretende Chor konnten da einigermaßen mithalten.
Wie schon bei der Premiere ist die Rolle des Brautvaters und Erbförsters Cuno wieder mit Clemens Unterreiner besetzt, der eine souveräne Leistung abliefert. Der junge deutsche Bariton Samuel Hasselhorn, der im vergangenen Juni schon als Belcore in „Elisir d´amore“ zu erleben war und mit Beginn der Saison 2018/2019 festes Ensemblemitglied der Staatsoper ist, legt ein respektables Rollendebut als Ottokar hin. Auf seine weiteren Einsätze darf man gespannt sein. Gabriel Bermudez sorgt als Kilian für neckische Auftritte.
Falk Stuckmann ist eine Luxusbesetzung in der kurzen Partie des erst am Schluss effektvoll auftretenden Eremiten. Der Eremit bereit zwar mit seinem Gnadenerlass die Voraussetzung für das Happyend, Regisseur Räth aber lässt keinen Zweifel daran, dass das Spannungsverhältnis zwischen Dorf und Wald weiter bestehen bleibt. Zuletzt ist die ganze Hochzeitsgesellschaft in ein rotes Licht getaucht, auch die Jägerschaft tritt nicht in gewohnt grüner Ein-Tracht auf, sondern rot gewandet, und der Beelzebub Samiel (in der Sprechrolle: Hans Peter Kammerer) wandelt unbekümmert durch die Reihen und blickt als letzter keck und provokant grinsend aus dem Vorhang ins Publikum. Schon zuvor saßen der Eremit als Vertreter der göttlichen Macht und Samiel einmal in trauter Eintracht nebeneinander auf einer Bank und kommentierten die Situation, in der sich Max gerade befunden haben mag. Auch dass eine klare Anspielung auf Goethes „Vorspiel im Himmel“ in seinem „Faust“. Das Spannungsverhältnis zwischen Gut und Böse ist keinesfalls aufgehoben.
Das Publikum zeigte sich sehr angetan von dem Dargebotenen. Man geht wohl nicht falsch in der Annahme, dass neben der bravourösen musikalischen Gesamtleistung an diesem Abend auch das fein durchkomponierte Regiekonzept von Räth & Co. seinen Anteil am Erfolg zu verbuchen hatte.
Und am Ende der derzeitig laufenden Aufführungsserie wird es sich vermutlich wieder einmal herausstellen, was dann alle immer schon gewusst haben werden: Totgesagte leben eben meistens länger. Denn in der nicht gerade mit vielen nachhaltigen Kostbarkeiten auftrumpfenden Liste von Neuproduktionen in der allmählich auslaufenden Amtszeit von Operndirektor Dominique Meyer ist Der Freischütz sicher eine der anregendsten und überzeugendsten Neuinszenierungen. Wenn nicht überhaupt die bislang beste.
Manfred A. Schmid
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