VADSTENA/SCHWEDEN: ENRICO DI BORGOGNA – NI 4.8.2012
Schloss Vadstena. Foto: Dr. Klaus Billand
Was Eva Wagner-Pasquier in der Pressekonferenz der Bayreuther Festspiele im Juli 2012 als neues Projekt für 2013 unter ihrer Leitung ankündigte, eine Wagner-Akademie „in kleiner Form“, woraufhin man sehen will, wie sich dieses Projekt weiterentwickeln kann, ist im kleinen aber traditionsreichen Vadstena am Vätternsee in der schwedischen Provinz Östergötland schon seit 1964 eine Institution. Sie erfreut sich bei jungen SängerInnen größter Beliebtheit und hat schon einigen Stars der Opernbühne auf den Weg zum Erfolg verholfen, unter anderen Nina Stemme, die dort Ehrengast ist. Seit 48 Jahren gibt es also mittlerweile die Vadstena Akademien (Vadstena Akademie), seit 2000 unter der künstlerischen Leitung von Nils Spangenberg, der diese Sommerakademie auf Schloss Vadstena mit viel Engagement und Herzblut betreibt und selbst eine Reihe von Werken hier inszeniert hat. Das Schloss ist eine schwedische Renaissanceburg aus dem 16. Jahrhundert. Es wurde im Auftrag von Gustav Vasa in den Jahren 1545–1620 erbaut, diente als königliche Residenz und wurde von Johann III. mit einer prachtvollen Ausstattung versehen, die aber später einem Brand zum Opfer fiel. Die viereckige Festungsanlage ist von einem Wassergraben umgeben, der direkt mit dem See verbunden ist
Die Geschichte der Vadstena Akademie liest sich wie eine Familienchronik, die lange vor der Zeit begann, als die Gesangspädagogin Ingrid Maria Rappe (1915-1994) zur Rekonvaleszenz nach Vadstena kam und die Idee hatte, dass man etwas mit dem Hochzeitssaal des Schlosses unternehmen müsste. Dieser heißt bis heute so, weil hier 1552 die Hochzeit von Gustav Vasa mit Katarina Stenbock stattgefunden haben soll. Die Zeremonie ereignete sich allerdings in der nahen Klosterkirche, während auf dem Schloss lediglich gefeiert wurde. Ingrid Maria Rappe erhielt schon seit ihrem 5. Lebensjahr eine strenge musikalische Erziehung durch ihre Mutter, die sie zur Pianistin ausbilden wollte. Ihre Tochter wollte aber Gesangslehrerin werden und studierte bei Ingeborg Steffensen in Kopenhagen. Die Idee zur Sommerakademie kam 1962 auf, als Rappe in Wien die Bekanntschaft des legendären Leiters der Wiener Sängerknaben, Ferdinand Grossmann, machte. Man entwickelte Pläne für eine schwedisch-österreichische Kulturzusammenarbeit, und 1964 reisten die ersten zehn Studenten von Wien nach Vadstena, um unter der Aufsicht von Grossmann und Rappe zu studieren. Bald darauf beschloss man, einige kleinere Buffo-Opern in Vadstena zu inszenieren. Diesem Konzept ist man bis heute treu geblieben. Immer wieder finden sich selten bis gar nicht gespielte Werke dieses Fachs und andere, auf kleiner Bühne aufführbare Opern auf dem Spielplan der Sommerakademie im Hochzeitssaal. Alle zwei Jahre macht man eine Auftragsoper. Die Stücke werden von jungen Künstlern, neben den Sängern auch die Musiker, Regisseure, Beleuchter und Kostüm- und Maskenbildner, in den Sommermonaten in Vadstena gemeinsam im Rahmen des Studienprogramms der Akademie erarbeitet. Neben der Beschäftigung mit älteren Werken werden auch Opern zeitgenössischer Komponisten vorgestellt. Über zwanzig im Auftrag der Akademie von nordeuropäischen Komponisten geschriebene Opern erlebten so in Vadstena ihre Uraufführung. Die Verbindung von Ausbildung und Forschung mit der Produktion musikdramatischer Werke verleihen der Akademie universalen Charakter.
In diesem Jahr stand Gaetano Donizettis nahezu unbekannte heroische Belcanto-Oper „Enrico di Borgogna“ vom Librettisten Bartolomeo Merelli auf dem Spielplan. Es war Donizettis dritte Oper, wurde aber als erste aufgeführt, und zwar im Jahre 1818 im Teatro San Luca in Venedig. Das zweiaktige Werk war ein großer Erfolg, die Partitur verschwand aber aus unerklärlichen Gründen. Der Musikhistoriker Anders Wiklund hat das Werk wiederentdeckt, und es kam in Vadstena nun nach beinahe 200 Jahren erstmals wieder zur Aufführung. Die Oper spielt im Burgund des Mittelalters. Der junge Enrico di Borgogna, schon in der Uraufführung und auch in Vadstena eine Hosenrolle, hat seinen rechtlichen Anspruch auf den Thron unrechtmäßig verloren und gewinnt ihn mit einigen revolutionären Aktionen zurück, wobei natürlich auch eine Liebesgeschichte um die schöne Elisa eine Rolle spielt.
Das aus 28 Musikern bestehende Orchester unter der Leitung von Olof Boman setzte Nachbildungen der Originalinstrumente aus der Zeit um 1810 ein, wobei die Violinen beispielsweise auf Rosshaar spielen. Das bewirkte einen ganz besonderen Klang der glutvollen und facettenreichen Musik Donizettis. Die Ouvertüre gewinnt schnell an intensiver Rhythmik, nach einem lyrisch verhaltenen Beginn, und mündet in Phasen mit thematischer Linienführung, insbesondre von den Violinen getragen. Der Hochzeitssaal, in dem man sich allein schon durch die dicken, weiß getünchten Wände mit alten Wandmalereien jeden Moment an die historische Bedeutung des Raumes erinnert und in eine andere Zeit versetzt fühlt, verleiht der Aufführung eine ganz besondere Aura. Clara Svärd ist für die Inszenierung zuständig. Auf der Rückwand des Saals hinter der einfachen Bühne, die sich mit wenigen, aber dramaturgisch stimmungsgerecht eingesetzten Bühnenbildern von Clive Leaver begnügt, sind ständig wechselnde Lichtprojektionen zu sehen, die das Geschehen aussagekräftig bebildern (Lichtregie Jimmy Ström). Die Kostüme von Anna Kjellsdotter sind meist elegant geschnitten, mit an die historische Vorlage angelehnter Abstraktion. Dunkle und dezente Farben herrschen dem Sujet entsprechend vor. Für die passende Maske ist Katrin Wahlberg zuständig.
Zu Beginn ist der erst 23jährige Tenor Markus Pettersson in der Rolle des Pietro mit einer melancholischen Arie zu erleben. Er hat einen kräftigen, leicht abgedunkelten Tenor, mit dramatischem Aplomb, dem es aber bei guten Höhen an letztem tenoralem Glanz und auch etwas Resonanz mangelt. Mit seinem großen Material ist er dennoch ein hoffnungsvolles Talent. Peter Nyqvist, Freund Pietros, kann mit seinem klangschönen Tenor gefallen. Schon bald tritt Kinga Dobay als Enrico mit der großen Auftrittsarie „Infelice…“ auf und nimmt das Publikum mit ihrem äußerst musikalischen Mezzosopran ein, der über gute Attacke, sichere Höhen und viel Ausdruckskraft verfügt. Den Spitzenton am Schluss intoniert sie perfekt und hält ihn mit beeindruckender Technik und Farbgebung. Sie ist die große Protagonistin des Abends. Als einzige aller SängerInnen der Produktion hat sie einen festen Vertrag, und zwar am Theater Ulm. Der Bassbariton Ludvig Lindström ist als Brunone eine imposante Erscheinung mit darstellerischer Intensität, und er verfügt über einen lyrischen, balsamischen Bass-Bariton. Christian Oldenburg in der Rolle des Gilberto kommt aus dem Publikum auf die Bühne und sorgt dort für eine gewisse Aufregung – er hält, wie ein Faktotum, den Protagonisten den Spiegel vor. Sein Bariton ist prägnant, klar artikulierend und ausdrucksstark. Der Tenor Thomas Volle als Guido und Liebhaber Elisas, die er gegen ihren Willen zu heiraten beabsichtigt, hat eine schlanke, aber kräftige Stimme, die er in der Arie an seine Angebetete sowohl höhensicher wie auch im Piano bestens intoniert. Im 2. Akt führt er seinen etwas metallische Stimme mit zu hohem Krafteinsatz und verliert damit etwas an Klangfülle. Die folgende Arie der Elisa wird sehr wirkungsvoll von der originalen Holzklarinette begleitet. Rebecca Rasmussen singt sie mit einem vollen, klangschönen Sopran bei exzellenter Diktion und erreicht fast dramatische Spitzentöne. Im darauf folgenden Duett mit Guido bringt sie auch ihre große Musikalität zum Ausdruck, die das Talent der noch sehr jungen Sängerin belegt. Das forcierte Umkleiden zur Braut auf offener Bühne und die Zwangshochzeit mit Guido im Schweinsgalopp unter einem fast unmerklich schnell herbei geschafften Trauerbaldachin geraten zu einem dramaturgischen Kabinettstückchen. Christina Nilsson als ihre Zofe Geltrude beeindruckt mit einem tragfähigen hellen Sopran, der mit ihrem Alter von erst 22 Jahren und der ersten Rolle überhaupt wohl am Beginn seiner hoffnungsvollen Entwicklung steht. Nach einem hervorragenden Tutti aller Protagonisten und Orchestermusiker mit hörbarer stimmlicher Präsenz Rebecca Rasmussens wird die Hochzeit nach einem musikalischen und mit Lichtblitzen verstärkten Gewitter aus heiterem Himmel überstürzt abgebrochen.
Zu Beginn des 2. Akts stellt Kinga Dobay in einer weiteren Arie ihre guten Koloraturen unter Beweis. Der stets einfallsreich choreografierte Chor überzeugt durch stimmliche Präsenz sowie ein hohes Maß an klanglicher Harmonie und Transparenz. In einer emotionalen und ausdrucksvoll vorgetragenen Arie Elisas an Guido glänzt Rebecca Rasmussen ein weiteres Mal mit charaktervoller Tönung der Mittellage, ebenso klangvollen Höhen wie Piani und lässt damit bisweilen schon eine Sieglinde durchklingen… Es folgt ein musikalisch großartiges Duett zwischen Elisa und Enrico, in dem beide Sängerinnen ihren Gefühlen intensiven stimmlichen Ausdruck verleihen. Die standgerichtsartige Szene im Finale mit dem Chor von neun mysteriös verhüllten Männern, bei der Guido von Wachen niedergestochen wird, hat auch musikalisch einige Dramatik und leitet über in die große Freiheitsarie des Enrico, in der Kinga Dobay noch einmal ihre blendenden Spitzentöne intoniert.
Das dankbare Publikum spendete lang anhaltenden Applaus für exzellente Leistungen des Orchesters und eines jungen Künstlerensembles mit einigen SängerInnen, denen eine große Zukunft bevor stehen sollte. Mit diesem „Enrico di Borgogna“ hat die Vadstena Akademien einmal mehr ihr großes Potential in der musikalischen Ausbildung und ihren Charakter als Talentschmiede unter Beweis gestellt. Bald feiert man schon ein halbes Jahrhundert an Erfahrung am Vätternsee. In Bayreuth beginnt man mit einer für den Wagnergesang so wichtigen Akademie – zaghaft – nun erst im Wagner-Jahr 2013, immerhin. Und es wird höchste Zeit, wenn man u.a. bedenkt, dass bei den letzten internationalen Gesangswettbewerben der ARD in München und dem Leyla Gencer Wettbewerb in Istanbul im September kein einziges Wagner-Talent unter die Finalisten kam. In Vadstena kann man sich informieren, wie eine solche Sommerakademie funktioniert…
(Fotos in der Bildergalerie)
Klaus Billand