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ULAN-UDE und IRKUTSK/Baikal-Russland: DER FLIEGENDE HOLLÄNDER

25.10.2012 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

ULAN-UDE und IRKUTSK/Baikal-Russland: DER FLIEGENDE HOLLÄNDER – 11.-17.10.2012


Staatliches Akademisches Opern- und Ballett-Theater Ulan-Ude

Schon die alten Griechen haben es gewusst: mitunter ist Zufall Ausdruck einer höheren Gesetzmäßigkeit. In der Erschließung der esoterischen Logik wurde Europa jedoch von den buddhistischen Philosophen weit überholt, und zwar durch das Konzept der karmischen Zu-Fälle, also eines allumfassenden Ratings der guten und schlechten Taten, welches Startbedingungen und viele Lebenswegwendungen der aktuellen Reinkarnationen bestimmt.

So gesehen ist die wohl größte kulturpolitische Sensation in der russischen Opernwelt der laufenden Saison – durchschlagender Erfolg mit 12-minütigen standing ovations im ausverkauften Saal des Staatlichen Akademischen Opern- und Ballett-Theaters von Ulan-Ude der ersten Inszenierung einer Wagner-Oper östlich des Urals – alles andere, als eine rasch verblassende und substanziell nicht weiter wichtige Randerscheinung im bunten Reigen des heutigen Musiktheaters.


Ouvertüre. Foto: Staatliches Akademisches Opern- und Ballett-Theater Ulan-Ude

Wagner is here to stay, der Spruch wäre in unendlichen sibirischen Welten von nun an nicht fehl am Platze, scheint allerdings unangebracht, singen doch die burjatischen Sänger (Burjaten sind engste Nachbaren und Verwandte der Mongolen) den „Fliegenden Holländer“ im nicht nur passablen, sondern bewusst erlebten Deutsch, und dies zum ersten Mal in ihrem Leben.

Aus europäischer Sicht jenseits des Uralgebirges hat Russland auf dem Territorium, größer als das des Abendlandes, nur wenige Opernhäuser: im Krasnojarsk, Novosibirsk, Jakutsk und eben Ulan-Ude, Hauptstadt der Republik Burjatien. Die burjatische Oper wurde 1939 gegründet, bekam ein eigenes Haus 1948 und erlebte ihre erste Blütezeit bereits in den 60er Jahren dank der großzügigen Subventionierung im Rahmen der sowjetischen Kulturausgleichpolitik. Es mag paradox klingen, doch mit einer 60 TänzerInnen starken hochkarätigen Ballett-Truppe, die seit dieser Saison vom Ex-Bolschoi-Star Morihiro Jwata geleitet wird und sich seit Jahrzehnten auf eine eigene Tanzhochschule stützt, würde Ulan-Ude definitiv zu den Top 10 der Tanzhochburgen Deutschlands zählen.

Neben der traditionsgemäß überdurchschnittlich hohen stimmlichen Qualität der Solisten, von denen manche zu den besten der Sowjetunion gehörten, hat jedoch das Opernhaus von Ulan-Ude aus der sowjetischen Zeit die Gepflogenheit vererbt, Opern nur in der russischen Sprache zu inszenieren. Ein Durchbuch in Richtung originalsprachige Aufführung erfolgte erst neuerdings – im nicht unwesentlichen Maße dank der innovativen Haltung des jungen dynamischen Kulturministers von Burjatijen, Timur Zybikov, und der neuen, ebenfalls auf Modernisierung bedachten Theaterdirektorin Ajuna Zybikdorzhieva. Allerdings wäre es verfrüht zu sagen, dass diese Inszenierungskultur in Burjatien sich schon etabliert hat.

Bedenkt man, dass davor noch nie ein ausländiger Regisseur ein Opernstück in Ulan-Ude inszenieren durfte, wird einem klar, was für eine Mammutaufgabe Hans-Joachim Frey am Baikal zu bewältigen hatte. Diese Triade der Herausforderungen – erstmals eine Wagner-Inszenierung, erstmals eine in Deutsch gesungene Oper, erstmals ein Ausländer als Regisseur – wurde in eine fürwahr bahnbrechende Leistung umgemünzt, welche den „Fliegenden Holländer“ am Baikal zum bisher schillerndsten Ereignis in der Musiktheater-Dimension des Russisch-Deutschen „Kreuzjahres“, das ab Juni 2012 bis Juni 2013 unter dem Patronat von Wladimir Putin und Joachim Gauk in beiden Ländern mit der Devise „Gemeinsam Zukunft gestalten“ verläuft.

Noch deutlicher wird die Tragweite und nachhaltige Wirkung dieser Premiere vor dem Hintergrund der Tatsache, das es sich wiederum um die erste Koproduktion des Operntheaters von Ulan-Ude und des Irkutsker Symphonieorchesters mit gemeinsamer Finanzierung aus den Budgets von zwei am Baikal-See liegenden russischen Regionen, der Republik Burjatien und dem Irkutskaja Oblast, samt Zuschuss des Kulturministeriums Russlands handelt.

Der Synergieeffekt des Zusammenführens der brillanten burjatischen SängerInnen und der hervorragenden Irkutsker Symphoniker übertraf jede Erwartung, so dass alle vier Vorstellungen der Premierenserie am 11. und 12. Oktober in Ulan-Ude und am 16. und 17. Oktober in Irkutsker Musiktheater, das übrigens eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Haus der Hamburger Oper aufweist, aber bisher meistens mit Operetten bespielt wurde, als eine für Sibirien beispiellose Erfolgslawine bezeichnet werden können.

In diesem Kontext ist auch auf den maßgeblichen Beitrag zum Zustandekommen des regionalpolitischen, finanziellen, organisatorisch-logistischen Fundaments der „Fliegender Holländer“-Inszenierung am Baikal des ebenso tatkräftigen wie visionären Vitaly Baryschnikov und Irkutsker Amtskollegen von Timur Zybikov, hinzuweisen.

Nun aber sind rahmenbildende Faktoren noch bei weitem nicht ausreichend, um Meisterwerke der Kunst zu erwirken – dafür sind vom Schaffensdrang beflügelte Künstler unerlässlich.

Was die so triumphale Landung des „Fliegenden Holländer“ an der Baikalküste anlangt, so ist vor allem die Leistung von H.-J. Frey zu nennen, der von vornherein und konsequent bis zur Premiere jegliche „Wagner für Anfänger“-Ansätze kompromisslos ausschloss und eine höchst anspruchsvolle, moderne, dem Zeitgeist der Globalisierung entsprechende und gerade dadurch den ganzen Reiz des Originals ausleuchtende Interpretation des Wagnerschen Universalstoffes auf die Bühne gebracht hat. Kongenial bringen das konstruktivistische Bühnenbild von Maria Volskaja und pointierte Beleuchtungseffekte von Elena Kopunova (beide aus Moskau) das Regiekonzept zum Ausdruck. Sehr solide ist die Leistung der Irkutsker Symphoniker unter dem routinierten lettischen Maestro Ilmar Lapinsch, der das Orchester in vier Jahren seiner Leitung mit höchster Kompetenz kontinuierlich weiterentwickelte.

Köstlich, sowohl gesanglich, als auch darstellerisch, der Damenchor. Im Einklang mit den besten Erwartungen ertönte schwungvoll der Matrosenchor, und infernalisch klangen die Holländer, welchen der Regisseur losgelöst vom Wagnerianischem Purismus starke Bühnenpräsenz vorgibt – sehr zum Vorteil der Handlung und der Zuschauer.

Einer speziellen Abhandlung wert wäre die Freysche Interpretation des dritten Aufzugs, wo es zum Tauziehen um die Gunst der Frauen zwischen den für erdgebundene Lebensfreude und gesunden Menschenverstand stehenden Norwegern und den Wahn der Träume verkörpernden Holländern kommt. Dieser Kampf zwischen dem Materiellen und dem Geistigen wiederholt sich im Miniduell Erik-Holländer, welches der Kapitän, wie auch seine Mannschaft, für sich entscheidet, um dann zusammen mit Senta sich selbst und einander zu befreien.


Auftritt Holländer, 1. Akt. Foto: Staatliches Akademisches Opern- und Ballett-Theater Ulan-Ude

Einen grandiosen Holländer von kolossaler archaischer Kraft gibt der aus der Mongolei stammende Munkhsul Namkhai. Stimmlich stark und technisch sicher, unheimlich sich verwandelnd, mal Napoleon, mal „Star Wars“ Darth Vader, mal Held einer Samurai-Saga, gelegentlich Mephisto, dann Commendatore und schlussendlich doch ein Mensch, der Erlösung erfährt durch das eigene Erleben einer selbstlosen, auf Besitzergreifung und Rache vollends verzichtenden Liebe. Eine große Sensation ist die Senta der blutjungen Ajuna Basargurujeva mit ihrem leuchtenden Sopran. So, wie sie singt und spielt, hat diese burjatische Sängerin alle Chancen, ebenso wie Munkhsul Namkhai, ein globaler Star zu werden. Im gleichen Atemzug von der Rollengestaltung her ist aber auch die zweite Senta dieser Inszenierung zu nennen. Marina Korobenkova, eine erfahrene, hochpräzise und schon seit vielen Jahren im russischen Osten gefeierte Sängerin, verleiht der Figur die Gestalt einer Top-Managerin im Familienunternehmen, welche trotz eines jugendlichen Liebhabers (nicht schlecht in dieser Rolle der vielversprechende Absolvent des Moskauer Konservatoriums Sawwa Hostajev) in tiefer Midlife-Krise steckt und doch dank ihrer Erfahrung, wie auch den Holländer, Mut findet zu einem anderen Leben.

Ja, so ist es: die Kernaussage der „Holländer“-Interpretation von Frey ist, dass Senta nicht in den physischen Tod geht, um alsbald mit dem Holländer in verklärter Gestalt aufzuerstehen, sondern mental die Vollendung des Verzichts auf den eigenherzigen Egoismus erreicht und dadurch ihre Träume wahr werden lässt. Badma Gombozhapov ist ein gar nicht so unsympathischer Daland. Bajarzhap Dambiev genießt als Steuermann verdient die Gunst des Publikums. Mit Oksana Hingejeva und Erzhena Basardarajeva ist die Mary gleichermaßen hochkarätig besetzt.


Mary & Senta im 2. Akt. Foto: Staatliches Akademisches Opern- und Ballett-Theater Ulan-Ude

Kurzum, ein Opernabend, für welchen allein es sich schon lohnt, nicht nur einem Touristen aus Holland, nach Baikal, in diese Region von Ehrfurcht gebietender Schönheit der Natur und weltweit einmaligem spirituellem Klima, wo Buddhismus, Christentum und heidnische Mystik sehr Wagnerisch verschmelzen, zu fliegen…

(Fotos in der Bildergalerie)

Oleg Siborow (übermittelt von Klaus Billand)

 

 

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