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Marc Rohde

FRANKFURT/ Gallus Theater: LUCKY TRIMMER #29

Frankfurt am Main/ Gallus Theater
LUCKY TRIMMER #29
Internationales Festival für zeitgenössischen Tanz
Besuchte Aufführung am 25.4.2025

 

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Die Künstler beim Schlussapplaus (Foto: Marc Rohde)

 

Das Berliner LUCKY TRIMMER Festival, berühmt für seine maximal zehnminütigen Tanz- und Performanceformate, feierte im April 2025 im Gallus Theater Frankfurt eine spannende Premiere: Erstmals zog die Festivalcrew mit ihrem bunten Programm aus Tanz und Performance außerhalb der Hauptstadt weiter. Das Ziel: neue Bühnen, neue Begegnungen – und ein noch breiteres Publikum für ihre leidenschaftlichen Miniaturen. Eine „Tanzbrücke“ zwischen der Stadt an der Spree und der Stadt am Main soll laut dem neuen Künstlerischen Leiter Raffaele Irace sogar etabliert werden.

Schon zu Beginn des Premierenabends zeigt sich der experimentelle Geist: In CTRL+Z von Miila Kaarina steckt die Performerin ihren Kopf in einen roten Eimer – ein stilles Bild von Enge und der Sehnsucht nach Befreiung. Zwischen weiteren Eimern entfaltet sich ein intensives Solo über die Fragilität von Erinnerungen und den Wunsch, Vergangenes ungeschehen zu machen. In minimalistischer Szene und mit viel körperlicher Präzision zeichnet die Niederländerin Miila Kaarina eine poetische Landkarte zwischen Festhalten und Loslassen. Leider blieben den nicht in der ersten Reihe sitzenden Zuschauern bei der flachen Zuschauertribüne im Gallus Theater einige der auf dem Bühnenboden stattfindenden Aktivitäten verborgen.

Düster und zynisch geht es mit Beast without Beauty von Carlo Massari weiter. Zwei Performer – Carlo Massari und Emanuele Rosa – liefern sich ein absurd-komisches Duell, in dem Schönheit zur bloßen Fassade verkommt. Inspiriert vom absurden Theater Samuel Becketts und durchzogen von makabren Anspielungen, etwa auf Adolf Hitler, der hier homoerotische Gelüste ausleben darf, schafft Massari eine existenzialistische Farce über Machtspiele, Gewalt und soziale Masken, bei der Kälte und Groteske Hand in Hand gehen. Bei Beethovens Freude schöner Götterfunken scheppern dazu die Lautsprecher.

Ganz auf die Kraft der eigenen Stimme und Bewegung setzt Avshalom Latucha in Give It To Me. Angelehnt an Tina Turners legendären ‚Proud Mary‘-Monolog zelebriert Latucha in seinem Solo die Suche nach uneingeschränkter Selbstentfaltung. Kraftvoll und verletzlich zugleich tanzt er gegen innere und äußere Erwartungen an, während Musik und Körper zu einer einzigen, drängenden Energie verschmelzen.

Nach der Pause begeistert The Coppelia Project von Caterina Mochi Sismondi mit einer außergewöhnlichen Verbindung von Tanz, Kontorsion und „Hairhanging“. Elisa Mutto interpretiert die mechanische Puppe Coppélia als Symbol weiblicher Selbstfindung zwischen äußerer Kontrolle und innerer Freiheit. Rigging-Experte Michelangelo Merlanti ermöglicht die spektakuläre Technik der Haarsuspension als souverän agierender Partner. Die Komponistin und Musikerin Bea Zanin hat die Originalthemen aus Coppélia aufgenommen und sie mit modernen elektronischen Klängen und live Violoncello kombiniert.

Sehr feinfühlig dann das Duett As Far As You Go von Aleksandra Krutikova und Johannes Walter: Zwei Körper suchen Nähe, stoßen sich ab, finden sich wieder. In minimalistischer Choreografie, voller Spannung und Hingabe, wird Einsamkeit genauso spürbar wie der Trost, den man im Anderen finden kann – ohne Worte, nur durch präzise, berührende Bewegung. Sanfte Klangflächen treiben wie Nebel durch einen offenen Raum. Leise Vibrationen flüstern von Fernweh und innerer Suche. Die Musik atmet, schwebt – und lässt auch die Stille mitschwingen.

Mit einer mutigen Auseinandersetzung endet der Abend: NO I’M NOT von Panos Malactos ist ein kraftvolles Statement über Machtmissbrauch und psychische Belastung im Tanzbetrieb. Melina Sofocleous, Styliana Apostolou und Natalia Vagena verkörpern den inneren Kampf, zwischen äußerer Perfektion und innerer Zerbrechlichkeit zu bestehen. Malactos‘ Choreografie schont weder sich noch sein Publikum – ein wichtiger, intensiver Abschluss, der die Schattenseiten des künstlerischen Traums sichtbar macht. Eine düstere, elektronische Klanglandschaft, durchzogen von verzerrten Beats und bedrückender Stille, sowie der Einsatz von grellen Lichteffekten verstärken den Ausdruck der inneren Zerrissenheit und des emotionalen Drucks der Tänzerinnen.

LUCKY TRIMMER #29 in Frankfurt bewies eindrucksvoll, wie viel Kraft, Vielfalt und Tiefgang in einer zehn minütigen Darbietung stecken können. Mutig, zärtlich, grotesk und politisch – ein Abend, der noch lange nachhallt und Lust auf die Neuauflage im kommenden Jahr macht.

Marc Rohde

FRANKFURT/ Engelsburg: HOW TO DATE A FEMINIST

Frankfurt am Main/ Theater in der Engelsburg
HOW TO DATE A FEMINIST
Komödie von Samantha Ellis
Besuchte Aufführung am 24.4.2025

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Die Protagonisten beim Schlussapplaus (Foto: Marc Rohde)

 

Erst zwei Jahre ist es her, dass das Frankfurter Fritz Remond Theater im Zoo nach 76 Jahren für immer seine Türen schloss. Nicht zuletzt aus nostalgischen Gründen habe ich dort die letzte aufgeführte Produktion ‚Dinge, die ich sicher weiß‘ mit wehmütigem Herzen besucht.

Nun haben sich ehemalige Mitarbeiter des Remond Theaters zusammengeschlossen und im einwohnerreichen, aber mit Theatern nicht gerade gesegneten Frankfurter Westen, genauer gesagt im Stadtteil Sindlingen, eine neue Spielstätte eröffnet.

Dabei wurde ein im Stile des Brutalismus Anfang der 1960er-Jahre errichtetes Veranstaltungszentrum wiederbelebt und vor wenigen Tagen mit der Premiere der Komödie ‚How to Date a Feminist‘ als Theater eingeweiht.

Allein die Architektur ist sehenswert, wenn es auch an plüschiger Theatergemütlichkeit erheblich mangelt. Auch die Publikumsströme dürfen gerne noch wachsen, denn hier wird richtig gutes Theater präsentiert und die scheinbare Randlage ist, da sie in unmittelbarer Nähe zur S-Bahnstation liegt, in wenigen Minuten aus der Innenstadt zu erreichen. Aber auch Mainz und Wiesbaden sind nicht weit, sodass das Potenzial immens erscheint und der 470 Menschen fassende Zuschauerraum gerne an seine Belastungsgrenze kommen darf.

 

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Der neue alte Theatersaal in Frankfurt Sindlingen (Foto: Marc Rohde) 

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IANA SALENKO

Gerade erst aus Maribor zurück, nur kurz zu Hause, dann schon wieder im Training: Der Terminkalender von Iana Salenko lässt kaum Pausen zu. Trotzdem nimmt sich die Berliner Kammertänzerin kurz vor ihrem Auftritt als Odette/Odile Zeit für ein Gespräch. Mit der Bühnenprobe vor ihren beiden gefeierten Auftritten in Slowenien ist es heute bereits der vierte Abend in Folge, an dem sie diese Paraderolle verkörpert.

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Schwanensee mit psychologischem Tiefgang

Patrice Barts Inszenierung am Staatsballett Berlin zeichnet sich durch eine psychologisch vertiefte Interpretation der Charaktere aus. Besonders bemerkenswert ist die Darstellung der Königin, Siegfrieds Mutter, die als manipulative Figur dargestellt wird, welche die Geschicke ihres Sohnes lenkt und ihn bewusst in den Untergang treibt. Diese Interpretation verleiht der Handlung eine zusätzliche emotionale Tiefe und unterscheidet sich von traditionellen Aufführungen. Darüber hinaus hat Bart die Rollen von Benno, Siegfrieds Freund, und Rotbart, dem Premierminister, tänzerisch aufgewertet und ihnen neue Facetten verliehen. Diese Produktion ist seit 1997 fester Bestandteil des Repertoires des Staatsballetts Berlin.

Einspringen aus Leidenschaft

Krankheits- und verletzungsbedingt gab es einige Umbesetzungen in letzter Minute und auch Iana hätte ursprünglich an diesem Sonntag frei haben sollen, anstatt hier mit mir zu sitzen. Als ‚Principle Guest‘ der Kompagnie kennt sie ihre Termine mindestens ein Jahr im Voraus und kann Gastengagements entsprechend planen. Trotzdem wollte sie Publikum und Kollegen heute nicht hängen lassen und übernahm diese zusätzliche Verpflichtung gern.

Odette/Odile im Wandel der Zeit

Als Schwan empfinde ich die Rolle überall gleich, auch wenn die Inszenierungen und die Choreographien sich unterscheiden, verrät sie mir. Mit den Jahren der Erfahrung insbesondere auch mit anderen Stücken, aus denen ich jedes Mal eine Kleinigkeit mitnehme, verändert sich auch meine Interpretation als Schwan kontinuierlich. Heute empfinde ich ganz andere Emotionen bei der Verkörperung von Odette/Odile als zu Beginn meiner Karriere. Auch meine Technik ist eine andere als in meinen frühen Interpretationen vor etwa fünfzehn Jahren. Nicht zuletzt die Geburt meiner Kinder hat mich stärker gemacht – sie lässt mich auch jeden Moment auf der Bühne stärker genießen.

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Ballett für den guten Zweck

Am 4. Mai wird erneut die Ballettgala Ballet for Life by Iana Salenkoim Admiralspalast stattfinden. Im Jahr 2022, nur wenige Wochen nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, riefen Iana Salenko und Oleksandr Shpak die erste Benefizveranstaltung unter dem Titel Ballet for Lifeins Leben. Sowohl diese Gala als auch die Folgeveranstaltung im Jahr 2023 zeigten eindrucksvoll die Solidarität der internationalen Tanzszene mit der ukrainischen Bevölkerung.

Die künstlerische Leitung der Gala-Reihe liegt bei dem Choreographen und Tänzer Arshak Ghalumyan sowie der Tanzdramaturgin Nicole Kohlmann. Zahlreiche Tänzerinnen und Tänzer bedeutender europäischer Compagnien darunter das English National Ballet, das Royal Swedish Ballet, das Royal Ballet in London sowie Het Nationale Ballet aus Amsterdam haben ihre Teilnahme zugesagt. Iana Salenko wird höchstpersönlich eine neue Choreographie von Arshak Ghalumyan präsentieren. Die Eintrittspreise sind bewusst niedrig gehalten und alle Besucher werden gebeten über diesen Link eine Spende abzugeben, die zur Unterstützung kriegsverletzter Kinder in der Ukraine verwendet wird. Im Jahr 2022 hatte ich das große Bedürfnis, auf diesem Wege etwas Hilfe zu leisten und habe die Gala damals fast ganz alleine auf die Beine gestellt. Inzwischen gibt es mehrere Leute, die sich um die Organisation kümmern und ich kann dieses Event jetzt entspannter angehen.

Zwischen Unterricht und Inspiration

Iana bietet Online-Masterclasses an. Für wen sind diese Angebote gedacht? Im Prinzip für jede Tänzerin, ganz egal ob Laie oder Profi. Heute gibt es für alles Online-Angebote und wenn ich im Haus etwas zu reparieren habe, suche ich auch nach Tutorials, die mir helfen. Durch die Dance Masterclasses können alle Interessierten ihren Lieblingskünstlern sehr nahe kommen und Tipps und Tricks von ihnen erfahren, auch wenn Sie sehr weit entfernt leben. Eine vollständige Ausbildung können diese Angebote nicht ersetzen, aber sie sind ein Baustein dazu. Manchmal gebe ich auch Masterclasses im Präsenzunterricht. Mich vor so vielen Menschen in einem Vortrag emotional zu öffnen, kostet mich aber viel Kraft und ich mache das nicht oft. Viel lieber wäre mir 1-1 Unterricht, bei dem ich nicht nur Ballett unterrichte, sondern die Person auch coache und mental unterstütze. Im Moment habe ich keine Zeit für so etwas, aber das wäre ein mögliches Projekt für die Zukunft.

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Alltag mit starken Männern

Du lebst mit Deinem Mann und Euren drei Söhnen zusammen. Fällt es Dir leicht, Dich in diesem Männerhaushalt durchzusetzen? Ich bin mit vier Brüdern aufgewachsen und verstehe mich in der Regel besser mit Männern als mit Frauen. Insofern passt das sehr gut. Mit unserem ersten Sohn war alles noch ganz einfach und er war sehr pflegeleicht, aber jetzt, mit drei Kindern muss ich auch schon mal lauter werden, um mich durchzusetzen. berichtet sie aus ihrem Familienalltag.

Bühne und Bildschirm

Ist Social Media wichtig in Deiner Karriere? Ich finde ja, weil ich mit den Online-Masterclasses Geld verdiene. Das ist ähnlich wie bei einem Influencer. Dank Social Media können die Leute heute ihren Stars auch näher sein und auf diesem Wege Kontakt mit ihren Idolen aufnehmen. Das hätte ich früher auch gerne gehabt. Ich war schon Solistin, bevor Social Media aufkam, also habe ich nicht deswegen Karriere gemacht.Oft stößt man im Internet auf Fake-Beiträge. Ich habe schon oft gut inszenierte Tanzvideos auf Instagram gesehen und wenn man die Person dann real vor sich hat, kommt da gar nichts rüber. Vieles im Netz ist unecht und ich probiere mich immer locker und natürlich zu zeigen. Da darf man auch sehen, dass ich nicht perfekt bin, sondern mir auch mal was misslingt. Auch Stürze sind in meinen Masterclass-Videos zu sehen und, dass ich darüber lachen kann. Auf der Bühne strebe ich natürlich immer nach Perfektion, aber Social Media zeigt eben eine andere Seite von mir.Auf diese Weise kann Iana einem großen Publikum – allein auf Instagram hat sie zurzeit etwa 345.000 Follower – zeigen, dass man mit dem nötigen Mindset und harter Arbeit auch trotz ihrer eher geringen Körpergröße von 1,58 Metern und nicht sehr langen Beinen bis an die Spitze tanzen kann. Man kann alles erreichen und dies möchte ich den Leuten auf diesem Wege in Erinnerung rufen.

Noch nicht am Ziel

Ich habe den Eindruck, dass die charismatische Ballerina aus Kiew schon alles erreicht hat, was eine Tänzerin überhaupt erreichen kann. Tatsächlich gibt es neben der Verkörperung von weiteren Traumrollen wie Manon oder Die Kameliendame, bei der sie ihre ganze darstellerische Raffinesse einsetzen könnte noch einen weiteren unerfüllten Traum: Ein wirklicher Traum ist es, dass ein Choreograph ein ganzes Ballett nur für mich choreographiert. Das wäre die Krönung meiner Karriere.

Ehrungen sind nicht alles

Du hast unzählige Preise gewonnen und im vergangenen Jahr den Titel Kammertänzerin verliehen bekommen. Was bedeuten Dir alle diese Ehrungen? Am Anfang meiner Karriere waren die Preise sehr wichtig. Sie haben mir geholfen, stark zu sein und gaben mir Bestätigung. Aus heutiger Sicht haben Titel und Preise nicht mehr so eine große Relevanz. Kommt etwas, okay. Kommt nichts, kann ich auch damit leben. Vor einem Jahr wurde ich mit dem Titel Kammertänzerin geehrt. Dies ist eine große Ehre und ich habe mich selbstverständlich darüber gefreut, aber der Titel hat mein Leben nicht verändert. Ich lebe jetzt und was in der Vergangenheit war, ist vorbei. Ehrungen werden ja immer für etwas verliehen, was bereits gewesen ist.

Tanzen bis 50 und vielleicht darüber hinaus

Es heisst oft, für Tänzer sei mit spätestens 40 Jahren Schluss. Du wirst in diesem Jahr 42 und hast vor einiger Zeit gesagt, Du willst bis 50 tanzen. Wie ist dies möglich? Mein Plan ist tatsächlich so lange zu tanzen, wie es irgend geht und da betrachte ich das Alter von 50 Jahren als einen realistischen Horizont. Tatsächlich bin ich offen für alles, was kommt, aber aktuell habe ich den Willen, bis zu diesem Alter zu tanzen und ich werde hart dafür kämpfen.

Federleicht und aus der Spur

Bei aller Disziplin und dem Streben nach Perfektion ist der Bühnenalltag aber oft auch von lustigen Anekdoten geprägt. Jeder Tag ist ein neuer Tag. Perfekt bin ich nie, aber ich gebe alles dafür, dass die Zuschauer dies während meiner Interpretation nicht bemerken. Auch jetzt noch versuche ich, jeden Tag besser zu werden und es wird immer noch ein bisschen Luft nach oben geben. Wir sind Künstler und keine Maschinen. Heute bin ich zum Beispiel gerade erst aus Maribor gekommen und habe kaum geschlafen. Man fühlt sich jeden Tag anders und auch wenn ich viel Mal hintereinander die gleiche Rolle tanze, ist das Ergebnis jedes Mal ein anderes.Das Lustigste, das Iana Salenko auf der Bühne passiert ist? Im Schwanensee hatte der Prinz vor zwei Tagen eine etwa 20 Zentimeter lange Feder am Ärmel. Ich kam zu ihm und machte ihn drauf aufmerksam, aber er konnte sie sich selbst nicht entfernen. Dann kam ich als Schwan zu ihm und zog sie raus, ich tanzte mit der Feder in der Hand und warf diese schließlich auf den Boden. Da hatte das Publikum was zu lachen.Es ist auch schon vorgekommen, dass Iana und ihr Partner einen falschen Weg gelaufen sind. Das ganze Corps de Ballet sollte in dieser Szene folgen und tat dies auch. Da haben wir ein ziemliches Chaos auf der Bühne produziert. erzählt sie lachend.

Rituale vor dem großen Moment

Schließlich möchte ich noch wissen, wie die zwei Stunden zwischen unserem Interview und dem Beginn der Vorstellung aussehen werden. Trainiert habe ich schon. Ich gehe in die Maske und bekomme dort mein Make-Up und meine Haare werden gemacht. Anschließend gehe ich auf die Bühne und probiere verschiedene Spitzenschuhe aus. Der Boden in dieser Produktion ist speziell und ich muss die Schuhe finden, die optimal dazu passen. Ich habe fünf Paare dabei, davon werde ich zwei Paare während der Vorstellung benutzen. Dann konzentriere ich mich natürlich noch auf die Vorstellung, um den Zuschauern einen möglichst perfekten Abend präsentieren zu können.

So kam es denn auch: eine mitreißende, hoch emotionale Vorstellung, der man das Arbeitspensum ihrer Hauptdarstellerin nicht anmerkte. Vielen Dank für das Gespräch und für diesen berührenden Abend.

 

Fotos: Iana Salenko und Martin ten Kortenaar
© Serghei Gherciu

Text: Marc Rohde im April 2025

BERLIN/ GRIPS Theater: Linie 1

LINIE 1 – Musikalische Revue von Volker Ludwig / Musik: Birger Heymann
GRIPS Theater Berlin
Vorstellung am 5.4.2025

 

Es war mein erster Besuch im GRIPS Theater – und gleichzeitig erst mein sechster Kontakt mit dem Stück Linie 1. Seit Ende der 80er-Jahre hatte ich es nicht mehr gesehen. Damals war es die westdeutsche Erstaufführung am Schleswig-Holsteinischen Landestheater, die mir den Zugang zum Theater überhaupt erst ermöglicht und meine Liebe dafür entfacht hat. Rainer Bock und Axel Prahl gehörten seinerzeit  zum Ensemble – ihre Interpretationen habe ich bis heute lebhaft vor Augen. Und in die Darstellerin der Protagonistin Natalie war ich in meiner Jugend, zugegeben, ein wenig verliebt.

Die Aufführung, die ich nun in Berlin gesehen habe, war bereits die 2.069. Vorstellung von Linie 1 am GRIPS Theater. Die aktuell gezeigte Fassung ist eine Neuinszenierung von Tim Egloff aus dem Jahr 2023. Einiges ist bunter – etwa die Kostüme von Mascha Schubert –, und musikalisch geht es, trotz des unverkennbaren 80er-Jahre-Sounds, etwas moderner zu, als ich es in Erinnerung hatte. Was glücklicherweise nicht verändert wurde, sind die teils bissigen, klugen Texte. Egloff stellt sich mit seiner Inszenierung nicht in den Vordergrund, sondern arbeitet mit viel Liebe zum Detail den Charakter des Stücks und der zahlreichen schrillen, aber oft auch tiefgründigen Figuren heraus.

Das Bühnenbild von Marian Nketiah ist reduziert, aber wirkungsvoll: bewegliche U-Bahn-Sitzreihen, eine große Showtreppe im Hintergrund und der Imbiss von Bouletten-Trude reichen aus, um Berlin in seiner schrägen Widersprüchlichkeit auf die Bühne zu bringen.

Die Rahmenhandlung – eine junge Frau aus der westdeutschen Provinz verliebt sich bei einem Konzert in einen Rockmusiker und macht sich in Berlin auf die Suche nach ihm – hatte ich fast vergessen. Viel präsenter waren mir die einzelnen Typen, die Kälte der Großstadt und die flüchtigen, manchmal berührenden Begegnungen, die dieses Mädchen (stark gespielt von Helena Charlotte Sigal) im Lauf der gut dreistündigen Berlin-Revue erlebt.

Dabei werden nicht nur Erinnerungen an „Raider“, das damals wirklich noch „Raider“ hieß, und den Walkman wach – sondern auch an das Lebensgefühl eines geteilten Berlins, in dem aus westlicher Perspektive tatsächlich in alle Himmelsrichtungen der Osten lag. Für jüngere Zuschauer mag das Stück wie ein lebendiger Geschichtsunterricht wirken. Und dennoch: Vieles ist auch heute noch aktuell. Wo man sich in den 80ern in der U-Bahn hinter Zeitungen versteckte, starrt man heute auf sein Handy – das Grundgefühl der Isolation in der Masse bleibt dasselbe.

Das Ensemble des GRIPS Theaters überzeugt auf ganzer Linie. Die wenigen Darstellerinnen und Darsteller schlüpfen in unzählige Rollen. Besonders beeindruckt haben mich Philipp Buder in seiner schnodderig-sympathischen Interpretation des Bambi und Dietrich Lehmann, der seit der Uraufführung mitwirkt, und unter anderem Hermann und Witwe Agathe verkörpert. Bezaubernd auch Berit Vander, die mit Leichtigkeit zwischen Prostituierter, Passantin, Lumpi, Bisi, Sängerin, Chantal und weiteren Rollen wechselt. Musikalisch sorgt die Band No Ticket für echten Genuss – sie ist weit mehr als bloße Begleitung.

Im Prinzip spielt es keine Rolle, was ich hier schreibe, denn die meisten Vorstellungen sind immer noch restlos ausverkauft. Dennoch möchte ich jedem, der die 80-er Jahre miterlebt hat oder etwas über das Lebensgefühl dieser Zeit erfahren möchte, den Besuch dieses Stücks, das das GRIPS Theater weltweit berühmt gemacht hat, ans Herz legen.

Weitere Informationen und zukünftige Termine: Grips Theater

Marc Rohde

FRANKFURT/ Jahrhunderthalle: SISTER ACT

SISTER ACT – Das himmlische Musical von Alan Menken
Jahrhunderthalle Frankfurt am Main
Vorstellung am 7.1.2024

 


Nachtclubsängerin mischt ein Kloster auf: Sister Act (Foto: Nico Moser)

Schon beim Betreten des groß dimensionierten, in dieser Bestuhlung gut 2.000 Zuschauer fassenden Saales der Frankfurter Jahrhunderthalle kommen die Besucher in Disco-Stimmung. Durch zwei oberhalb eines auf der Bühne angedeuteten Kirchenraumes hängende Disco-Kugeln macht sich ein Funkeln im Saal und auf den Köpfen der Besucher breit. Dieses Funkeln geht im Laufe des Abends auch auf die Stimmung im Publikum über, denn nach einem ruhigeren Beginn des Musicals wird schon bald mitgeklatscht und beim Schlussapplaus auch mitgetanzt. Die Firma ShowSlot schickt die Originalproduktion aus dem Londoner Westend auf Tour durch deutschsprachige Metropolen und begeistert wieder durch eine erstklassige Interpretation. Insbesondere die humorvollen Dialoge und die farbenfrohe Ausstattung bleiben in Erinnerung. 

Die Bühnenfassung des berühmten Films mit Whopi Goldberg stammt aus dem Jahr 2006 und verzichtet auf große Hits wie „I will follow him“. So bleibt das Mitsummen von Ohrwürmern auf dem Nachhauseweg zwar weitestgehend aus, aber während der fast dreistündigen Show aus der Feder des mit unzähligen Preisen ausgezeichneten Komponisten Alan Menken rocken die Nonnen den Saal und sorgen für lachende Gesichter und gute Laune pur. Am Ende wird sogar gerapt und so auch musikalisch die Transformation vom eintönigen Einerlei der fast in Vergessenheit geratenen Kirche zu einer moderneren und für die Menschen wieder relevanten Institution unterstrichen. Die deutschen Dialoge und die ebenfalls in deutscher Sprache vorgetragenen Gesangsnummern klingen dabei weder holprig noch sperrig und sind dank der guten Artikulation aller Akteure meistens sehr gut zu verstehen.

Die exzentrische Nachtclubsängerin Deloris van Cartier wird nach einem ihrer Auftritte zufällig Zeugin eines Mordes, begangen von der Gangster-Bande ihres zwielichtigen Freundes. Um ihrem Schicksal zu entkommen, landet sie im Zeugenschutzprogramm. Doch statt glamouröser Bühnen erwartet sie ein zurückgezogenes Leben in einem konservativen Kloster, wo sie als bescheidene Nonne untertauchen soll – sehr zum Unmut der strengen Mutter Oberin, die mit Deloris‘ Lebensstil und Ansichten kaum weniger gemeinsam haben könnte.

Im Kirchenchor soll Deloris sich in die Gemeinschaft einfügen, doch der Chorgesang ist alles andere als harmonisch. Kurzerhand übernimmt sie die Leitung und bringt frischen Schwung in die Proben. Unter ihrer Führung wird jeder Gottesdienst zu einem mitreißenden Erlebnis, und die Gemeinde wächst rasant. Als die Nonnen schließlich die Chance bekommen, vor dem Papst aufzutreten, erfahren die Gangster durch einen Fernsehbericht von Deloris‘ Aufenthaltsort, und die Gemeinschaft gerät plötzlich in große Gefahr. Doch die Schwesternschaft zeigt Mut: Wie eine solidarische Schutzmauer stellen sich die Nonnen den Ganoven entgegen. Mit einem euphorischen „Lass die Liebe herein“ endet das Abenteuer glanzvoll und zuversichtlich. 


Farbenfrohes Finale (Foto: Nico Moser)

Denise Lucia Aquino bleibt akustisch an diesem Abend als Delores Van Cartier in ihrer ersten Gesangsnummer „Zeig mir den Himmel“ noch etwas blass, aber schnell wird sie darstellerisch wie stimmlich zum schillernden Fixstern dieses Abends und gewinnt nicht zuletzt durch ihre rollenbedingten Tabubrüche als Nachtclubsängerin inmitten der Ordensschwestern die Herzen des Publikums. Im Gegenspiel zur Mutter Oberin (Susanne Rietz) gelingen zahlreiche Pointen. Lorenzo di Girolamo als Polizist Eddie Fritzinger glänzt vor allem in seiner Solonummer „Tief in mir“, in der er einen großartigen Quickchange auf offener Bühne vollzieht und während der Nummer eine ganz andere Seite an sich zeigen kann. Aus dem weiteren hochklassigen Ensemble ragt meines Erachtens insbesondere Melanie Kastaun heraus, die sich als Sister Mary Robert vom grauen Entlein zum schillernden Schwan entwickelt und besonders mit ihrer schönen Stimme punktet. Die live (für die Zuschauer unsichtbar auf der Seitenbühne spielende) achtköpfige Band wird von Daniel Weiß geleitet und wird allen stilistischen Anforderungen gerecht. 

Schmissig sind die Choreographien von Alistair David und die Kostüme von Morgan Large sind durchwegs eine optische Augenweide und spiegeln das 70’er Jahre Flair wider, ohne dabei altmodisch zu wirken. 

Die Besucher erleben in dieser Inszenierung von Bill Buckhurst und im äußerst wandelbaren Bühnenbild von Morgan Large einen schillernden Abend zum Mitfeiern. Dieser bietet einen bunten Kontrast zum oft grauen Alltag und verdient das Prädikat: Allerfeinste Unterhaltung. 

Marc Rohde

FRANKFURT/ Festhalle: EHRLICH BROTHERS – DIAMONDS

EHRLICH BROTHERS: DIAMONDS
Festhalle Frankfurt am Main

Vormittagsvorstellung am 28.12.2024

 


Sympathische Brüder: Die Ehrlich Brothers (Foto: Sebastian Drueen)

Was ist dran an der angeblich so magischen Anziehungskraft der Ehrlich Brothers? Im Fernsehen habe ich noch keine Show der beiden Brüder bis zum Ende gesehen, aber seit Jahren sehe ich den riesigen Fuhrpark, mit dem die Bühnenelemente durch die Nation transportiert werden, an der Frankfurter Festhalle stehen. Neugierig bin ich schon länger gewesen. Nun habe ich einen Selbstversuch absolviert und die Show zum 10-jährigen Tour-Jubiläum besucht. 

Allein die Tatsache, dass die Show an diesem Samstag drei Mal hintereinander gezeigt und jeweils so gut wie ausverkauft ist, zeugt von der Beliebtheit der Stars. Auch am Vortag gab es bereits zwei Vorstellungen und wegen der ungebrochen großen Nachfrage sind für Dezember 2025 drei Zusatzshows am selben Ort geplant. 

Unter dem Namen Diamonds zeigen die Illusionskünstler ihre besten Illusionen aus den zehn Jahren. So lange sind sie schon mit großformatigen Shows unterwegs und im kommenden Jahr werden sie sogar in den USA auftreten. Es werden dem Publikum aber nicht spektakuläre Nummern am laufenden Band präsentiert, sondern Andreas und Chris führen mit Witz und Charme durch den Abend, bzw. in meinem Fall durch den Morgen, denn das Programm begann bereits um 11:00 Uhr. Sie nehmen ihre Arbeit und die Zuschauer dabei ernst, aber nicht unbedingt sich selbst. Da necken sich die beiden häufig, lachen über sich selbst und in wiederholten Interaktionen und Gesprächen mit einzelnen Menschen im Publikum entsteht schnell das Gefühl, dass wir alle nett beieinander sitzen und Teil der Runde sind. Auch für Flachwitze ist man sich nicht zu schade und als eindrucksvollen Kontrast bekommen die Zuschauer Sekunden später die natürliche Wärme einiger pyrotechnischer Show-Elemente zu spüren. 

Kumpelhaft und nahbar geben sich die beiden und dabei wirkt der Ablauf der Show nicht gescripted, sondern so natürlich als würde jeder Abend ein wenig anders verlaufen, was bei der Komplexität der Bühnenmaschinerie und der gezeigten Acts natürlich nicht möglich ist. So nebenbei zaubern sie dann mal eben einen Monster-Truck auf die gigantische Bühne oder verbiegen Eisenbahnschienen mit der bloßen Hand und der Kraft der Liebe eines seit über vierzig Jahren verheirateten Paares aus dem Publikum. So funktioniert das! Faszinierend ist es auch, wie sie das Publikum im Laufe der Show mehrmals mit ein und demselben kleinen Trick aufs Glatteis führen und diesen erst ganz am Ende des Programms in Zeitlupe auflösen. Dass ein Magier eine massive Stahlplatte durchdringen kann, ist ja sicher für niemanden überraschend, auch wenn bei normalen Menschen bestenfalls Kopfschmerzen durch diesen Versuch hervorgerufen werden. Bei den Kindern waren die mit kleinen Fallschirmen vom Dach der Festhalle herabsteigenden Lollies besonders beliebt. Spektakulär ist schließlich die Nummer, an der sie jahrelang gearbeitet haben, bis sie bühnenreif war: beide Brüder fliegen in sehr natürlich wirkenden Bewegungen scheinbar schwerelos über die Bühne. Da sieht man keine Befestigung, es wackelt und ruckelt nichts und die Menschenmenge staunt über die dargebotene Perfektion.

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die Anziehungskraft dieser beiden Ausnahmekünstler in einer Mischung aus Weltklasse-Entertainment und Menschlichkeit liegt. Hier darf auch mal eine Kleinigkeit schief gehen oder ein Versprecher passieren. 

Marc Rohde

FLENSBURG/ Landestheater: ROXY UND IHR WUNDERTEAM – Premiere

Schleswig-Holsteinisches Landestheater Flensburg: 
ROXY UND IHR WUNDERTEAM
Operette von Paul Abraham

Premiere am 15.12.2024

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Ein Starkes Ensemble gestaltet die halbszenische Aufführung (Foto: Henrik Matzen)

Seit der Wiederentdeckung der verloren geglaubten Originalpartitur von Paul Abraham erobert Roxy und ihr Wunderteam die Bühnen im Sturm. Die Erstaufführung der bühnenpraktischen Rekonstruktion von Henning Hagedorn und Mathias Grimminger fand 2014 an der Oper Dortmund statt. Es folgten Produktionen am Staatstheater Augsburg (2017), an der Komischen Oper Berlin (2019), an der Wiener Volksoper (2021), an der Bühne Burgäschi (2022) und schließlich im November 2024 im österreichischen Murau. 2025 ist eine konzertante Aufführungsserie in Graz geplant und sicher werden weitere folgen. 

Roxy und ihr Wunderteam ist die deutsche Fassung der im Jahr zuvor in Budapest uraufgeführten Operette 3:1 a szerelem javárada. Da man in Österreich 1937 besser Fuss- als Wasserball spielte, wurde kurzerhand die Sportart gewechselt. So entstand die erste Fußball-Operette der Geschichte. Bei der Uraufführung dieser Vaudeville-Operette im Theater an der Wien war die österreichischen Fußball-Nationalmannschaft anwesend. Kurz darauf musste Paul Abraham Wien und auch Budapest verlassen und emigrierte über Paris und Kuba nach New York. Die Operette wurde mit Hans Holt und Rosy Barsony und Fußballspielern, wie beispielsweise Matthias Sindelar, dem Kapitän des legendären österreichischen Wunderteams der 1930er-Jahre, verfilmt.

Da der Inhalt in diesem Fall sicher auch vielen Operettenkennern nicht geläufig ist, folgt eine kurze Zusammenfassung: Die ungarische Fußball-Nationalmannschaft hat in London gerade über das englische Nationalteam gesiegt. Auf der Flucht vor ihrem Bräutigam Bobby steht plötzlich die Engländerin Roxy im Hotelzimmer der Fußballer. Trotz Einspruch des Mannschaftskapitäns nehmen die Fußballer das Mädchen kurzerhand mit ins Trainingslager. In Ungarn angekommen, erfährt das Fußballteam, dass auch noch Schülerinnen eines Mädchenpensionats mit ihrer strengen Lehrerin im Landhaus untergebracht sind. Der Mannschaftskapitän ist über die weibliche Präsenz wenig begeistert, obwohl ihm die selbstbewusste Roxy durchaus gefällt. Bei einer gemeinsamen Feier der Fußballer mit den Schülerinnen erscheinen plötzlich Roxys Bräutigam Bobby und ihr Onkel Sam. Um sich aus der peinlichen Situation zu retten, verkündet Roxy ihre Verlobung mit dem soeben eintreffenden Verbandspräsidenten Baron Szatmary, der sich amüsiert auf das Spiel einlässt.

Nach den Ereignissen am Plattensee haben die nach Budapest zurückgekehrten Pensionatsschülerinnen Hausarrest. Roxy bleibt bei ihnen und teilt ihr Schicksal. Die Fußballer kommen einer nach dem anderen als Mädchen verkleidet ins Pensionat. Zwischen dem Mannschaftskapitän Gjurka und Roxy gibt es wieder Streit. So müssen die Mädchen das Rückspiel der ungarischen Mannschaft gegen die Engländer im Radio verfolgen. Aber als es zur Halbzeit 1:0 für England steht, reißen Roxy und die Mädchen aus, um ihre Jungs direkt im Stadion anzufeuern. Dank dieser tatkräftigen Unterstützung wendet sich das Spiel für die ungarische Mannschaft, aber auch für Roxy und Gjurka. Im allgemeinen Siegestaumel finden sie endlich zueinander.

Musikalisch bietet Paul Abraham mit diesem Werk allerfeinste Unterhaltung. Swing, opulente Filmmusiken, sowie ungarische und Wiener Operette vermischen sich hier zu einem umfangreichen akustischen Ohrenschmaus.

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Carsten Kock als Conférencier (Foto: Henrik Matzen)

Das Ensemble des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters ist an diesem Premierennachmittag (Sonntag um 16:00 Uhr ist eine ungewöhnliche aber auch sehr angenehme Uhrzeit) bestens aufgelegt und lässt keine Wünsche offen. Meines Erachtens sollte der NDR eine der Vorstellungen in seinem Programm übertragen, oder ein CD-Label eine Aufnahme dieser Produktion des Landestheaters veröffentlichen, denn die halbszenische Aufführung ist mit ihren gut eineinhalb Stunden Spieldauer (zzgl. Pause) von idealer Länge und dazu noch perfekt besetzt. Für die szenische Einrichtung, die in Kostümen von Jakov Sladojević aber ohne Bühnenbild gezeigt wird, zeichnet sich Maximilan Eisenacher aus. Zahlreiche Nebenrollen wurden gestrichen und das Geschehen wird erzählerisch durch einen Conférencier gestrafft. Dieser wird von einem Urgestein des norddeutschen Privatradios, Carsten Kock, gegeben. Eine ungewohnte Rolle für den ansonsten aus dem Bereich Politk bekannten Moderator des Senders R.SH. Mit Charme und sonorer Stimme führt er durchs Geschehen und im Verlauf der kommenden Aufführungen wird seine leichte Anspannung noch weichen. Urkomisch ist die Szene, in der er für Roxy und Ilka selbst zum Radio mutiert. Das gesamte Ensemble ist spielfreudig, meistert die szenischen Aufgaben mit einer großen Portion Humor, aber nimmt das Sujet ernst und agiert mit dem nötigen Respekt vor dem Werk. Das Ergebnis ist auch szenisch beste Unterhaltung ohne Abdriften zum Klamauk. 

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Christian Alexander Müller als Gjurka Karoly und Talya Lieberman als Roxy (Foto: Henrik Matzen)

Talya Lieberman als quirlige Roxy sticht neben den ebenfalls brillanten Herren Kai-Moritz von Blanckenburg als ihr Onkel Sam Cheswick und Christian Alexander Müller als Mannschaftskapitän Gjurka Karoly besonders hervor. Köstlich sind auch Philipp Franke als Tormann Jani Hatschek, Dritan Angoni als Géza Alpassy und Mikolaj Bońkowski als Arpad Balindt. Respekteinflößend gestaltet Itziar Lesaka die Direktorin des Mädchenpensionats und keck und von jugendlicher Frische geprägt, gibt Małgorzata Rocławska die Schülerin Ilka Pirnitzer. Da alle Solisten durch Mikroports unterstützt werden, können sie sich einerseits stets gut gegen das im Bühnenhintergrund platzierte und gar nicht leise Schleswig-Holsteinische Sinfonieorchester behaupten, aber auch viele Passagen subtiler und differenzierter gestalten, als wenn Sie ihre Opernstimmen stets voll aussingen müssten. Doppelte Freude beschert auch Generalmusikdirektor Harish Shankar am Pult. Zum einen sorgt er für stets spritzige Tempi, zum anderen ist es auch ein großer optischer Spaß, wie er teilweise beinahe tänzelnd seine Musiker durch den Abend führt. Der Chor des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters, einstudiert von Avishay Shalom, trägt ebenfalls maßgeblich zum gelungenen Nachmittag bei. 

Eine echte Mannschaftsleistung eben!

Marc Rohde

BERLIN/ Staatsballett: GISELLE

Staatsballett Berlin: „Giselle“
111. Vorstellung am 4.12.2024

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Ensemble des Berliner Staatsballetts (Foto: Mariia Kulchytska)

Giselle ist einer der Ballettklassiker schlechthin und umso erfreulicher ist es, dass das begeisterte Publikum des Staatsballetts Berlin diesen auch in einer klassischen Interpretation erleben darf. Patrice Bart zeigt sich für Choreographie und Inszenierung verantwortlich und überzeugt mit seiner romantischen Sicht auf das Werk. An diesem Mittwochabend erleben wir in einer langem restlos ausverkauften Vorstellung bereits die 111. Aufführung der seit dem Jahr 2000 auf dem Spielplan stehenden Produktion. 

Im Bühnenbild und den Kostümen von Peter Farmer und dem subtil eingesetzten Lichtdesign von Franz Peter David zaubern die Tänzerinnen und Tänzer dem internationalen Publikum ein Lächeln ins Gesicht und werden schließlich mit langanhaltendem Beifall und Standing Ovations belohnt. 

Riho Sakamoto gibt Giselle im ersten Akt als „Everybody’s Darling“ und verzaubert mit ihren zart fließenden Bewegungen und ihrer künstlerischen Raffinesse nicht zuletzt die Dorfbewohner, den Wildhüter Hilarion (Alexei Orlenco), sowie Albrecht (Martin ten Kortenaar).


Dorfgesellschaft im 1. Akt (Foto: Mariia Kulchytska)

Gleichsam esotherisch wie ernsthaft gibt Eloïse Sacilotto im zweiten Akt ein ebenso überzeugendes Portrait der Königin der Willis ab. Auch Sakamoto versprüht im Reich der Willis eine luftig schwebende, geisthafte Zartheit und beweist ihre Wandlungsfähigkeit bei gleichbleibend herausragender tänzerischer Brillanz. Albrecht wird ja von den Willis zum Tanzen bis zur Erschöpfung verurteilt, aber ten Kortenaar scheint in seiner dynamischen Interpretation weit vom Ermüdungszustand entfernt zu sein.


Im Reich der Willis (Foto: Mariia Kulchytska)

In weiteren solistischen Partien sind Lewis Turner als Wilfried, Dominik White Slavkovský als Prinz von Kurland, Julia Golitsina als Bathilde, Maria Boumpouli als Berthe und schließlich Meiri Maeda und Giovanni Princic im Bauern-Pas-de-Deux zu sehen. 

Musikalisch wird die Leistung auf der Bühne von der Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Marius Stravinsky konzentriert und schwungvoll unterstützt. Dafür werden Dirigent und Orchester in den Jubel während des Schlussapplauses ebenfalls mit vielen Bravorufen belohnt. 

Dieser Abend ist einer von unzähligen Beweisen dafür, dass Berlin kulturell weltweit in der ersten Liga spielt. Umso unverständlicher ist es, dass der Kulturetat dieser Stadt für 2025 um 130 Mio. Euro gekürzt werden soll. Ein Einschnitt dieser Dimension kann katastrophale Folgen haben und nur mit Start-Ups, Pop-Ups und der stets besten Bundesregierung aller Zeiten verliert die deutsche Hauptstadt deutlich an Profil und Attraktivität. Ein Abend wie dieser in der Staatsoper Unter den Linden sei stellvertretend als praktischer Beweis der völkerverständigen Wirkung von Kultur genannt. Nicht nur im Ensemble, sondern auch im Publikum sind unzählige Nationen, darunter sowohl Russen als auch Ukrainer, friedlich vereint. Eine Katastrophe, wenn uns diese Basis für ein friedliches und Verständnis-schaffendes Miteinander genommen wird. 

Marc Rohde

PERLA GALLO – Tänzerin am Schleswig-Holsteinischen Landestheater

Der erste Schnee ist gefallen und die malerische Stadt Flensburg ist seit zwei Tagen mit weißem Puder bedeckt. Umso voller sind die gemütlichen Cafés an diesem Samstagvormittag. Im Café Isa in der Norderstraße treffe ich die Tänzerin Perla Gallo, die mich zuvor schon mehrmals auf der Bühne begeisterte. 


Tänzerin Perla Gallo am jordanischen Felsentempel Petra (Foto: privat)

Wie eine kleine Familie empfindet die charmante Italienerin ihre Flensburger Company und fühlt sich sowohl am hiesigen Theater als auch in der Stadt an der dänischen Grenze sehr wohl. Großstadt-Stress muss hier niemand befürchten, ist die Stadt doch allgemein für ihre dänische Gelassenheit bekannt. Perla hat immer davon geträumt, die Zeit anhalten zu können, vielleicht um einen besonderen Moment zu genießen oder einfach, um nie alt zu werden. Dabei ist es ihr nie gelungen, die Zeiger anzuhalten, aber es gibt einen Weg oder vielmehr einen Ort, an dem die Zeit „angehalten“ wird und die Uhr nicht mehr tickt: den Strand. Deshalb schätzt sie hier an der Küste besonders die Nähe zum Strand, um dort ein paar Stunden am Ufer zu verbringen und neue Kraft tanken zu können.  

„Ich wurde in Pforzheim geboren und bin mit meiner Familie zusammen nach Italien gezogen, als ich sieben Jahre alt war.“ erzählt sie. In ihrer Kindheit war sie sehr lebhaft und immer irgendwie in Bewegung und so kam ihrer Mutter die Idee, Perla zum Ballettunterricht anzumelden. „Auf diese Weise habe ich festgestellt, dass Ballet eine Sache ist, die ich wirklich machen möchte. In einem Workshop wurde schließlich die Direktorin der Accademia Nazionale di Danza in Rom auf mich aufmerksam und so zog ich im Alter von 13 Jahren in die Hauptstadt und begann meine Tanzausbildung. Diese Zeit war für mich sehr wichtig, denn in den Jahren an der Akademie entdeckte ich, wer ich künstlerisch und auch als Person überhaupt bin. Hier habe ich gelernt, an mich selbst zu glauben.

Vor ihrem ersten festen Engagement hier im Norden arbeitete sie bereits freischaffend in Italien, im Oman, in China, in Algerien und in den Vereinigten Arabischen Emiraten und war in unterschiedlichsten Produktionen zu erleben. In Deutschland konnte man sie ab 2019 in Halberstadt in Schwanensee und Die Schöne und das Biest auf der Bühne sehen. 

„Als während der Lockdowns viele Theater geschlossen blieben und ich nicht auftreten und arbeiten durfte, war ich sehr demotiviert und wusste nicht, was ich tun sollte. Per Zufall hatte ich die Ausschreibung für die Stelle in Flensburg gesehen und mir gesagt: Wenn es klappt, dann mache ich weiter, ansonsten gebe ich das Tanzen auf.“ Schön, dass sie jetzt hier ist!

Nun ist Perla schon die dritte Spielzeit im Ensemble des Landestheaters und sie kann sich sehr gut vorstellen noch länger zu bleiben, schließlich fühlt sie sich hier pudelwohl. In wenigen Tagen wird sie in Emil Wedervang Brulands Version von Tschaikowskis Dornröschen als Aurora debütieren. „Ich war erst ein Mal als Pamina eine Prinzessin auf der Bühne“ erzählt sie mir. Wie sie so vor mir sitzt, versprüht sie im selben Moment eine fast aristokratisch anmutende Eleganz, so dass ich keinen Zweifel daran habe, dass sie auch diese Rolle perfekt verkörpern wird. In dieser Produktion ist sie als rote Fee eingestiegen und die Proben für die Umbesetzung laufen gerade. 


Auf Reisen, wie hier in Vietnam, begibt sich die Künstlerin nicht zuletzt, um persönlich daran zu wachsen (Foto: privat)

Sie sei eigentlich ein introvertierter und schüchterner Mensch sagt sie über sich. Nur tanzend könne sie so richtig aus sich herausgehen und überwindet auf diese Weise ihre Scheu davor, im Mittelpunkt zu stehen. Sobald sie die Bühne betritt, fühlt sie sich wie ein anderer Mensch und kann ihr Publikum vom ersten Moment an begeistern. Bei diesen Worten wirkt die junge Frau auf mich sehr reflektiert und tiefgründig und auch im Gespräch keineswegs schüchtern. Auf der Bühne in einer Sprechrolle eine tragende Rolle zu spielen, sei für Perla aber undenkbar. Sehr gerne würde sie auch mal eine wirklich bösartige Persönlichkeit auf der Bühne verkörpern, um mal eine ganz andere Seite zu zeigen. Die Italienerin ist nicht zuletzt ihren Eltern sehr dankbar dafür, dass sie diesen Beruf ausüben darf und so in einer ihr angenehmen Weise einen Teil ihrer Persönlichkeit zeigen kann, der im Alltag manchmal eher im Verborgenen bleibt. 

Bei der Zusammenarbeit mit dem Choreographen gibt dieser natürlich den Rahmen vor, aber wie sie eine Rolle letztendlich künstlerisch interpretiert entscheidet sie und im Laufe einer Aufführungsserie verändert sie auch immer wieder Details und entwickelt ihre Interpretation eines Charakters von Mal zu Mal weiter.

Wie sieht denn eigentlich die tägliche Routine einer Tänzerin aus? „Für mich ist das Frühstück der schönste Teil des Tages. Ich liebe es, den Tag mit einem guten Frühstück und einem guten Kaffee zu beginnen. Dann gehe ich ins Theater, wo ich mich normalerweise vor dem Training ein wenig aufwärme und dann mit den Proben für die Vorstellungen weitermache. In der Pause gehe ich gerne ins Fitnessstudio, um Muskelaufbauübungen zu machen, aber ich entspanne mich auch mal mit einem guten Buch und einem Kaffee am Hafen, wenn das Wetter es zulässt. Danach gehe ich wieder zur Arbeit und beende schließlich den Tag, indem ich etwas koche und mich mit einem heißen Kräutertee verwöhne.“

Sehr spannend findet sie auch Tanzabende in der sogenannten Kleinen Bühne, in der die Tänzerinnen und Tänzer ihrem Publikum so nah sind, dass sie den Zuschauern in die Augen blicken können. Das empfindet die Künstlerin als sehr spannend und spürt dabei eine ganz eigene Energie. Darüber hinaus steht im kommenden Jahr eine besondere Wiederaufnahme an: in einer speziell für Klassenzimmer eingerichteten mobilen Aufführung mit dem Titel Adna ist neu geht es um den Moment, wenn man neu in eine Gruppe kommt, die ‚Neue‘ im Klassenzimmer ist.  Dabei hat Perla in ihrer Kindheit durchaus Gemeinsamkeiten mit diesem Charakter gehabt: „Als Kind wünschte ich mir, ich hätte Superkräfte und könnte unter bestimmten Umständen unsichtbar sein. Ich fühlte mich fast immer unwohl, litt unter Minderwertigkeitskomplexen und fühlte mich tatsächlich wie Adna; stets beobachtet, bewertet und voller Angst, keine eigene authentische Identität zu haben.“ Die Arbeit mit Kindern bedeutet ihr viel: „Ich liebe Kinder, es macht mir Freude, mit ihnen zu arbeiten, ihnen etwas beizubringen, sie zu stimulieren und ihre Fragen zu beantworten. Ich arbeite gern in Projekten, die Bildung und Kunst unterstützen, und die soziale Inklusion fördern. Deshalb habe ich mich auch schon ehrenamtlich engagiert und werde dies auch weiterhin tun.

Die Tänzerin malt abstrakte Bilder, in denen sie ihre jeweiligen Empfindungen und aktuelle Eindrücke zum Ausdruck bringt. Dabei denkt sie nicht viel nach, sondern malt intuitiv drauf los. Einige ihrer Bilder verewigt sie in einem persönlichen Tagebuch, andere sind eigenständige Kunstwerke, die sich auch als Wandschmuck eignen.

Eine weitere Passion von Perla Gallo ist das Reisen. Neulich erst ist sie direkt nach einer Premierenfeier in den Bus zum Hamburger Flughafen gestiegen, um von dort sehr früh am nächsten Morgen zu einem Kurztrip nach Finnland aufzubrechen. Im vergangenen Sommer hat sie eine ausgedehnte Reise durch Asien und Afrika unternommen und liebt es bei solchen Gelegenheiten sehr, sich mit den Einheimischen zu unterhalten und so deutlich mehr über die Eigenheiten und Persönlichkeiten zu erfahren, als es in einem Pauschalurlaub möglich wäre. Afrika gefällt ihr dabei besonders, denn dort ist sie häufig auf Menschen gestoßen, die ohne großen materiellen Besitz sehr zufrieden und ausgeglichen sind. „Ich reise, um die Welt zu erkunden, neue Orte und Kulturen zu entdecken und um zu sehen, was sich außerhalb meines Alltags abspielt. Ich reise auch, um persönlich daran zu wachsen. Ich verlasse dabei meine Komfortzone. Reisen inspiriert mich, weil ich meine Perspektive dadurch verändere. Durch das Reisen fühle ich mich lebendig. Ich sammle Erinnerungen und keine Gegenstände.“


Nach Afrika möchte Perla Gallo unbedingt zurückkehren. Dieses Bild zeigt sie in Kenia. (Foto: privat)

Für Ihre Zukunft hat sie keine konkreten Pläne. „Es geht immer irgendwie weiter. Vielleicht wäre eine Aufgabe in Afrika irgendwann etwas für mich. Ich möchte auf jeden Fall dorthin wiederkommen und meine Kontakte ausbauen.“ 

Ich freue mich sehr, dass Perla auch bei diesem Interview in englischer Sprache ihre Komfortzone für mich verlassen hat. Danke für das Vertrauen und die offenen Worte.

Marc Rohde, November 2024

FLENSBURG/ Landestheater: DORNRÖSCHEN

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Yi-Han Hsiao als Prinzessin Aurora und Chu-En Chiu als Prinz Désiré und Ensemble (Foto: Henrik Matzen) 

FLENSBURG/ Schleswig Holsteinisches Landestheater: DORNRÖSCHEN

Premiere am 2. November 2024

 

Der überraschende Star des Abends dieser Premiere des neuesten Musiktheaterstücks von Choreograph Emil Wedervang Bruland ist das Schleswig-Holsteinische Sinfonieorchester unter der souveränen Leitung des katalanischen Dirigenten Sergi Roca Bru. Musikalisch wird alles aufgefahren, was Tschaikowskis durch lyrische Melodik und reiche Harmonien geprägte Partitur benötigt, um zu begeistern. Von melodischer Schönheit über farbenprächtige Opulenz bis hin zu den charakteristischen Tanzsätzen dieses 1890 im St. Petersburger Mariinski-Theater uraufgeführten Meisterwerkes lotet der 1. Kapellmeister des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters jede Nuance aus und die Musiker im Graben folgen ihm konzentriert.

Am Landestheater ist das Stück auf 130 Minuten inklusive Pause gekürzt worden und natürlich kann das recht kleine Tanztheater-Ensemble der akustischen Opulenz nicht durch eine große Menge an Menschen auf der Bühne entgegentreten. Stattdessen setzt Bruland auf eine eigene Interpretation des klassischen Märchenstoffes, der im Wesentlichen dennoch der bekannten Vorlage folgt. Musikalisch sind dabei auch die bekanntesten der unzähligen Variationen und Charaktertänze erhalten geblieben, aber wurden in die Handlung integriert und die Darstellung den Protagonisten auf den Leib choreografiert. Bruland und die Dramaturgin Susanne von Tobien erzählen die Geschichte als Suche nach selbstbestimmter Freiheit und Identität, aber auch als Finden der eigenen Kraft und Liebe, verrät ein Blick in den Programmzettel. Dabei gibt es schon beim Tauffest so viele Details zu sehen, dass man gar nicht alle Aktionen auf einmal wahrnehmen kann und sich idealerweise ein zweites Mal die Zeit nimmt, eine der Aufführungen zu besuchen. Wie dem Baby Aurora im Kinderwagen die Windel gewechselt wird und angewidert von einem Gast zum nächsten weitergereicht wird, sorgt nicht nur für Lacher im Publikum sondern stellt auch die unmittelbare Verbindung vom phantastischen Märchen mit dem heutigen Alltag der Menschen her. Statt der traditionellen Verletzung an der Spindel, sticht Aurora sich später an einer Spritze, mit der Carabosse sie überwältigt und schließlich in eine Art Trance versetzt. Projektionen in einer Art Bilderrahmen auf der hinteren Begrenzung der Szenenfläche visualisieren dabei die durch die Spritze hervorgerufene Blutung (oder den Eintritt der Droge in den Blutkreislauf der Prinzessin?) und die psychedelische Wirkung der verabreichten Substanz. In dieser von Carabosse gelenkten Traumsequenz reflektiert Aurora Gewesenes, begreift Geschehenes und durchlebt ihre Sehnsüchte. Schließlich begreift die Protagonistin, dass nur sie selbst sich befreien kann und entreisst ihrem Peiniger die Spritze, um ihn schließlich damit zu eliminieren und doch noch mit Prinz Desiré das gemeinsame Glück zu finden. Bruland gelingt es, eine ästhetische eigene Körpersprache für seine Company zu kreieren, aber begegnet auch der originalen, für eine Besetzung von 155 Tänzerinnen und Tänzern geschaffenen Choreografie von Marius Petipa durch vereinzelten Zitate mit Respekt. Herausgekommen ist eine wirklich gelungene Symbiose aus Tradition und modernem Tanztheater, welches am Landestheater ganz ohne Tutus und Spitzenschuhe auskommt. Die farbenfrohen zeitgenössischen Kostüme und die Bühne, die im Wesentlichen an filigrane Scherenschnittmuster erinnert, stammen von Stephan Anton Testi.

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Yun-Cheng Lin als Carabosse manipuliert Prinzessin Aurora (Foto: Henrik Matzen)

Tänzerisch glänzen in der Premiere vor allem die wandlungsfähige Yi-Han Hsiao als Prinzessin Aurora und Yun-Cheng Lin als deutlich aufgewerteter und teils sadistisch wirkender Bösewicht Carabosse. Chu-En Chiu vermag durch seine sensible Gestaltung dem Prinzen Désiré Profil zu geben. Risa Tero gibt als elegante Fliederfee die Gegenspielerin Carabosses. Das Gespann der guten Feen vervollständigen der charismatische Ben Silas Beppler als Blaue Fee, die bezaubernde Perla Gallo als Rote Fee und William Gustavo De Barros mit seiner schelmischen Art als Grüne Fee. Die drei letztgenannten werden im Dezember als Carabosse, Aurora und Désiré zu sehen sein, was erneut zu spannenden Momenten und gänzlich anderen Eindrücken auf der Bühne führen dürfte. Komplettiert wird das frisch und präzise tanzende, mit reichlich Ausdruckskraft agierende Flensburger Ensemble durch Gijs Machiel Stenger als Böse Fee, Laura Elizalde Garcia als Bösere Fee, Meng-Ting Wu als Böseste Fee und Lou Thabart als König, sowie Carolina Martins de Oliveira als Königin. 

Am Ende gibt es tosenden Applaus und Standing Ovations für alle Beteiligten. 

Marc Rohde