LINIE 1 – Musikalische Revue von Volker Ludwig / Musik: Birger Heymann
GRIPS Theater Berlin
Vorstellung am 5.4.2025
Es war mein erster Besuch im GRIPS Theater – und gleichzeitig erst mein sechster Kontakt mit dem Stück Linie 1. Seit Ende der 80er-Jahre hatte ich es nicht mehr gesehen. Damals war es die westdeutsche Erstaufführung am Schleswig-Holsteinischen Landestheater, die mir den Zugang zum Theater überhaupt erst ermöglicht und meine Liebe dafür entfacht hat. Rainer Bock und Axel Prahl gehörten seinerzeit zum Ensemble – ihre Interpretationen habe ich bis heute lebhaft vor Augen. Und in die Darstellerin der Protagonistin Natalie war ich in meiner Jugend, zugegeben, ein wenig verliebt.
Die Aufführung, die ich nun in Berlin gesehen habe, war bereits die 2.069. Vorstellung von Linie 1 am GRIPS Theater. Die aktuell gezeigte Fassung ist eine Neuinszenierung von Tim Egloff aus dem Jahr 2023. Einiges ist bunter – etwa die Kostüme von Mascha Schubert –, und musikalisch geht es, trotz des unverkennbaren 80er-Jahre-Sounds, etwas moderner zu, als ich es in Erinnerung hatte. Was glücklicherweise nicht verändert wurde, sind die teils bissigen, klugen Texte. Egloff stellt sich mit seiner Inszenierung nicht in den Vordergrund, sondern arbeitet mit viel Liebe zum Detail den Charakter des Stücks und der zahlreichen schrillen, aber oft auch tiefgründigen Figuren heraus.
Das Bühnenbild von Marian Nketiah ist reduziert, aber wirkungsvoll: bewegliche U-Bahn-Sitzreihen, eine große Showtreppe im Hintergrund und der Imbiss von Bouletten-Trude reichen aus, um Berlin in seiner schrägen Widersprüchlichkeit auf die Bühne zu bringen.
Die Rahmenhandlung – eine junge Frau aus der westdeutschen Provinz verliebt sich bei einem Konzert in einen Rockmusiker und macht sich in Berlin auf die Suche nach ihm – hatte ich fast vergessen. Viel präsenter waren mir die einzelnen Typen, die Kälte der Großstadt und die flüchtigen, manchmal berührenden Begegnungen, die dieses Mädchen (stark gespielt von Helena Charlotte Sigal) im Lauf der gut dreistündigen Berlin-Revue erlebt.
Dabei werden nicht nur Erinnerungen an „Raider“, das damals wirklich noch „Raider“ hieß, und den Walkman wach – sondern auch an das Lebensgefühl eines geteilten Berlins, in dem aus westlicher Perspektive tatsächlich in alle Himmelsrichtungen der Osten lag. Für jüngere Zuschauer mag das Stück wie ein lebendiger Geschichtsunterricht wirken. Und dennoch: Vieles ist auch heute noch aktuell. Wo man sich in den 80ern in der U-Bahn hinter Zeitungen versteckte, starrt man heute auf sein Handy – das Grundgefühl der Isolation in der Masse bleibt dasselbe.
Das Ensemble des GRIPS Theaters überzeugt auf ganzer Linie. Die wenigen Darstellerinnen und Darsteller schlüpfen in unzählige Rollen. Besonders beeindruckt haben mich Philipp Buder in seiner schnodderig-sympathischen Interpretation des Bambi und Dietrich Lehmann, der seit der Uraufführung mitwirkt, und unter anderem Hermann und Witwe Agathe verkörpert. Bezaubernd auch Berit Vander, die mit Leichtigkeit zwischen Prostituierter, Passantin, Lumpi, Bisi, Sängerin, Chantal und weiteren Rollen wechselt. Musikalisch sorgt die Band No Ticket für echten Genuss – sie ist weit mehr als bloße Begleitung.
Im Prinzip spielt es keine Rolle, was ich hier schreibe, denn die meisten Vorstellungen sind immer noch restlos ausverkauft. Dennoch möchte ich jedem, der die 80-er Jahre miterlebt hat oder etwas über das Lebensgefühl dieser Zeit erfahren möchte, den Besuch dieses Stücks, das das GRIPS Theater weltweit berühmt gemacht hat, ans Herz legen.
Weitere Informationen und zukünftige Termine: Grips Theater
Marc Rohde