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STUTTGART/ Stdiotheater: DIE MÄUSESCHLAMPAGNE ODER WANN HAT DIESER SCHEISSKRIEG EIN ENDE. Premiere

02.10.2014 | Allgemein, KRITIKEN, Theater

Premiere „Die Läuseschlampagne oder wann hat dieser Scheisskrieg ein Ende?“ im Studiotheater Stuttgart

EIN TRAUMA OHNE ENDE

Premiere von „Die Läuseschlampagne oder wann hat dieser Scheisskrieg ein Ende?“ im Studiotheater am 3. Oktober

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Copyright: StudiotheaterStuttgart

Selbst Kaiser Wilhelm II. kommt hier in einer Originalaufnahme zu Wort. Die unbeschreiblichen Schrecken des ersten Weltkriegs werden in der subtilen Regie von Dieter Nelle höchst lebendig gemacht. Trommelfeuer, Verzweiflung und Mannschaftsbordelle bestimmen das furchtbare Leben der jungen Soldaten, die in sich selbst gefangen und den Geschehnissen hilflos ausgeliefert sind. Stellungskrieg, Materialschlachten, nächtliche Patroullien und zerschossene Wälder zeichnen diese Atmosphäre auch mit raffiniert eingeblendetem Filmmaterial nach. Die wandlungsfähigen Darsteller Axel Brauch, Christoph Franz, Lieko Schulze und Caroline Sessler versetzen sich darstellerisch virtuos in Künstler wie Otto Dix, der krampfhaft gegen seine Alpträume kämpft und mit den Schreckensbildern des Krieges an der Westfront nicht fertig wird: „Denn ich habe jahrelang, mindestens zehn Jahre lang immer diese Träume gehabt, in denen ich durch zertrümmerte Häuser kriechen musste, durch Gänge, durch die ich kaum durchkam.“
Einen breiten Raum nimmt dabei auch Ernst Jünger ein, der sich durchs Stahlgewitter kämpft, akribisch Kriegstagebuch schreibt und ein preußischer Offizier werden will. Keine Frage: „Die Läuseschlampagne oder Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“ ist ein furioses Recherche-Projekt. Die Materialien wurden dem Ensemble vom Haus der Geschichte zur Verfügung gestellt. Es sind Fundstücke aus dem Internet und aus den vergessenen Büchern. Kriegslieder und Kochrezepte wurden ebenfalls gesammelt. Die Schauspielerinnen und Schauspieler verstehen es glänzend, sich in ihre Rollen fanatisch hineinzusteigern. Dadurch wächst auch der dramaturgische Spannungsbogen erheblich. Das klug aufgebaute und keinen Moment langweilige Stück sucht mit den Kriegstagebüchern von Ernst Jünger, den Feldpostbriefen des Stuttgarters Adolf Mann an seiner Frau Elisabeth und der Auseinandersetzung mit dem 1924 erschienenen Radierzyklus von Otto Dix eine lokale Verankerung und Anbindung an den ersten Weltkrieg. Dix wie Jünger waren Wirklichkeitsmenschen – das macht diese Inszenierung eindringlich deutlich. Sie sind hungrig nach der Intensität der Wirklichkeitserfahrung, die die als verlogen erlebte Zivilisationsmaske des wilhelminischen Reiches durchbrechen will. Sandsäcke liegen wild verstreut auf dem Boden, die Soldaten sind einer ständigen und atemlosen Hetzjagd ausgeliefert. Das sind auf jeden Fall die stärksten und unmittelbarsten Momente dieser Aufführung. Der Radierzyklus „Der Krieg“ machte Otto Dix berühmt. Aber die nationale Rechte fühlte sich verraten, die Linke in ihrem pazifistischen Bedürfnis bestätigt. Dix erkannte im Grauen auch das Ästhetische, war aber leider kein Pazifist. Auch dies unterstreicht Dieter Nelles sehr gelungene Inszenierung. Als Dix von seinem Galeristen Nierendorf den Auftrag zu einem Radierzyklus zum 10-jährigen „Jubiläum“ des ersten Weltkrieges erhielt, näherte er sich diesen Bildern, indem er anatomische Studien betrieb und nach Palermo in die Katakomben fuhr. Diese Erkenntisse werden auch in der mit filmischen Strukturen arbeitenden Inszenierung facettenreich verdeutlicht. Die erschütternden Folgen und Ereignisse des Krieges wirken plötzlich real, weil sich die Schauspielerinnen und Schauspieler immer mehr in die Geschehnisse hineinsteigern. Dix beispielweise berichtet über das Malen der verletzten Soldaten, deren Gesicht zu einer „Möse“ wurde. Man erkennt auch ihn, wie er pausenlos durch Gänge und Gräben irrt und zwischen Granattrichtern von Alpträumen gepeinigt wird. So hat Regisseur Dieter Nelle zusammen mit der Ausstatterin Gesine Pitzer eine Art Doku-Fiktion entstehen lassen. Ähnlich ist es auch bei dem Stuttgarter Soldaten Adolf Mann. Er schrieb seiner Verlobten und späteren Frau Elisabeth aus dem ersten Weltkrieg 1392 Feldpostbriefe. Er schonte seine Frau in diesen Briefen nicht. Von Elisabeth Mann sind leider keine Briefe mehr erhalten. Adolf und Elisabeth Mann blieben aufgrund ihrer tiefen Liebe bis zum Tod ein Paar. Und Adolf Mann wurde ein erfolgreicher und sozial engagierter Unternehmer. Dieser durch Bilder von Otto Dix inspirierte Szenen-Zyklus beeindruckte das Premierenpublikum vor allem aufgrund der Tatsache, dass alles zu einem kollektiven Tagebuch zusammengefügt wurde. Stimmen von Unbekannten fanden dabei ebenso Eingang wie die Kriegstagebücher von Otto Dix und Ernst Jünger.

So gab es am Ende begeisterten Schlussapplaus. Dieser schloss die suggestive Video-Leitung von Alexander Schmidt und die überzeugende musikalische Leitung von Joachim Bilek aufgrund der ungewöhnlichen Klangflächen mit ein.

Alexander Walther    

 

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