Premiere „Jakob Lenz“ in der Staatsoper Stuttgart am 25. Oktober 2014
EMPFINDUNGEN EINES TRAUMATISIERTEN
Georg Nigl. Foto: Bernd Uhlig
Wolfgang Rihms revolutionäre Jugendoper „Jakob Lenz“ feierte am Samstag abend in der Staatsoper Stuttgart eine vom Publikum gefeierte Premiere in Anwesenheit des Komponisten Wolgang Rihm. Dieses Werk wurde 1978 uraufgeführt und gilt heute als viel gespielte Oper. Die widersprüchlichen Empfindungen eines Traumatisierten, den der Tod eines kleinen Mädchens, das er nicht wieder zum Leben erwecken kann, in Verzweiflung stürzt, werden hier in grandioser Weise auf die Spitze getrieben.
Die Regisseurin Andrea Breth hat dabei ein beklemmendes Psychogramm entworfen, wobei die szenische Entwicklung auf der Bühne in einzelne Abschnitte eingeteilt ist, die von einem Vorhang abgetrennt sind. Der aus Wien stammende Georg Nigl präsentierte bei der bejubelten Premiere eine hervorragende gesangliche Leistung, wobei die erweiterte stimmliche Darstellungskunst bis hin zum Falsett drastisch herausgearbeitet wurde. Tremolo- und Glissando-Passagen begleiteten elektrisierend-fieberhaft die Kantilenen von Jakob Lenz, den sechs innere Stimmen (Irma Mihelic, Olga Heikkila, Sopran, Sabrina Kögel, Karin Tobjörnsdottir, Stine Marie Fischer, Alt, Dominic Große und Eric Ander, Bass) fast schon trancenhaft unterstützten. Unter der subtilen musikalischen Leitung von Franck Ollu entwickelte sich Wolfgang Rihms revolutionärer Ausbruch aus der seriellen Welt in erstaunlicher Weise, denn das Staatsorchester reagierte immer wieder höchst konzentriert. Der Tritonus h-f-ges mit kleiner Sekunde beherrschte wiederholt verschiedene Melodiezitate – einmal sogar bei der feinsinnig dargebotenen Weise „So ein Tag, so wunderschön wie heute„. Einmal erinnerten die Sarabande-Reminiszenzen sogar deutlich an Georg Friedrich Händel. Strukturelle Akzente wie Ländler und Madrigal ergänzen sich gegenseitig. Der bewegliche Apparat mit komplizierter Stimmenführung passt hier gut zur weiträumigen Bühne von Martin Zehetgruber, wobei die christliche Symbolik besonders hervorsticht. Die Zustandsbeschreibung des psychischen Zerfallsprozesses von Büchners Lenz belebt auch Lenz‘ Trauer um das Mädchen Friederike, das er nicht retten kann.
John Graham Hall, Georg Nigl, Henry Waddington. Foto-Copyright: Bernd Uhlig
Die Aufzeichnungen des Sozialreformers und Pfarrers Johann Friedrich Oberlin über den Aufenthalt des suizidgefährdeten Sturm- und Drang-Dichters Michael Reinhold Lenz in seinem Haus im Steintal der Vogesen hatten Georg Büchner als Grundlage für seine berühmte Novelle gedient. Extreme Kammermusik prägt die räumlich-akustische Entwicklung, wobei Henry Waddington als Oberlin und John Graham-Hall als Kaufmann markante Figuren abgeben. Rhythmische und harmonische Konstellationen charakterisieren dabei die tragischen Stadien des Scheiterns von Lenz. Harte Staccatto-Attacken der Trommel wirken wie die Herzschläge eines Verzweifelten, der in sich selbst gefangen ist. Ein Rondorelief ist dabei die passende musikalische Form, die Wolfgang Rihm hierbei entworfen hat. Expressive Triebhaftigkeit kennzeichnete Rihms fieberhafte Musik jedenfalls bei der Premiere unter der Leitung von Franck Ollu, der jede kontrapunktische Faser dieser feinnervigen Partitur exzessiv auslotete. Das Wuchern der Ton- und Klangkonstellationen wurde im Laufe des Abends immer eindrucksvoller. Auch die Aurelius Sängerknaben Calw harmonierten mit dem vorzüglich disponierten Staatsorchester Stuttgart bestens. Eva Dessecker hat sich hinsichtlich der Kostüme etwas einfallen lassen. Einmal erscheint Jakob Lenz auch wie ein gekreuzigter Christus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er bekennt vor Oberlin und Kaufmann: „Ich bin der verlorene Sohn…“ Aber man fühlt sich bei diesen beklemmenden, in Mark und Bein gehenden Szenen ebenso an Alban Bergs „Wozzeck“ erinnert. Doktor und Hauptmann scheinen hier in Form von Oberlin und Kaufmann tatsächlich wieder lebendig zu werden und ihr Unwesen zu treiben. Denn sie züchtigen den armen Lenz und treiben ihn immer weiter in die totale Isolation. Ein gelungener, starker Inszenierungsmoment ist ferner jene Szene, wo Lenz in der Luft schwebt und ganz langsam wieder zur Erde niedersinkt. Da scheint die Zeit einfach still zu stehen.
Musikalisch wird bei diesem Abend immer wieder viel entdeckt. Einmal fühlt man sich sogar an „Notations“ von Pierre Boulez erinnert, denn Wolfgang Rihm legt natürlich ungeheuer viel Wert auf mitreissende rhythmische Prozesse. Die Unmittelbarkeit der szenischen Aussage führt bei dieser Aufführung zu einer spannungsvollen Ergänzung im Musikalischen. Schroffe Klangimpulse wehseln sich mit intensiver Gesanglichkeit ab – vor allem die choralartigen Passagen in Cantus-firmus-Manier gehen immer wieder unter die Haut. Wie Rihm seinen expressiven Eingebungen freien Lauf lässt, setzt die durchaus sensible Regisseurin Andrea Breth sehr wirkungsvoll auf der Bühne um. An einzelnen Abschnitten kann man die konzentrierte Präzision allerdings noch verbessern. Suggestive Momentaufnahmen prägen die Handlung in eindringlichster Weise, wobei sich die schattenhaften Grenzklänge verflüchtigen. Pizzicato-Effekte beleben den facettenreichen kammermusikalischen Rhythmus. Rihms enorme Triebkraft steht im Zentrum des Geschehens. Das war auch beim Schlussapplaus auf der Bühne zu spüren. „Ich schreibe viel„, sagt Rihm. „In keiner Berufssparte wird jemand, der viel arbeitet, denunziert, nur in der Kunst. Ich halte das für eine Unverschämtheit!“ Als er sich vor dem begeisterten Publikum zusammen mit den Ensemblemitgliedern verbeugte, fiel dem Betrachter die äusserliche Nähe zu Gerhart Hauptmann auf. Dieser Komponist füllt auch visuell die Bühne komplett aus (Licht: Alexander Koppelmann, Dramaturgie: Sergio Morabito).
Alexander Walther