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STUTTGART/ Staatsoper: IPHIGENIE IN AULIS von Chr. W. Gluck. Wiederaufnahme

26.07.2014 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

STUTTGART: IPHIGENIE IN AULIS – RACHEKRIEG MIT GLÜCKLICHEM AUSGANG – 25. Juli 2014

Glucks „Iphigenie in Aulis“ am 25. Juli 2014 als Wiederaufnahme in der Staatsoper/STUTTGART

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Ronan Collett, Mandy Fredrich. Foto: A.T.Schaefer

Die Inszenierung von Andrea Moses spielt höchst virtuos mit den Ereignissen der Französischen Revolution – wenn auch in modernem Gewand. Das lupenrein musizierende Staatsorchester Stuttgart unter der einfühlsamen Leitung von Nicholas Kok interpretierte bereits die langsame Einleitung der Ouvertüre höchst philosophisch und melancholisch. Richard Wagner erkannte darin einen merkwürdigen „Anruf aus schmerzlichen, nagenden Herzensleiden“. Und die Regisseurin ging auf diesen Aspekt des Werkes voll ein. Das konnte man auch bei der geglückten Wiederaufnahme feststellen. Der von Andrew Schroeder sonor und stimmgewaltig verkörperte Agamemnon litt hier glaubwürdig unter dem Gebot der Gottheit, die von Mandy Fredrich mit strahlenden Kantilenen gesungene Iphigenie zu opfern. Übermächtig wirkte diese gebieterische Forderung nicht nur in der Musik, sondern auch in der zwar optisch kalten, doch nie oberflächlichen Inszenierung. Aus dem geheimnisvollen Unisono aller Streicher formte sich dabei ein kosmisches szenisches und harmonisches Gebilde, das die Zuschauer durchaus fesselte. Dem Hauptthema des Allegro war hörbar ein zarter Gedanke gegenübergestellt, der Iphigenies feine jungfräuliche Anmut zum Ausdruck brachte. Ein Oboen-Thema flehte ergreifend um Mitleid für die Unschuldige. Aus dem Widerstreit dieser vielschichtigen Themen entwickelte sich ein großartiges und ergreifendes Seelendrama, das in einer bedrohlichen Guillotinen-Szene gipfelte. Iphigenies Hinrichtung war hier so gut wie beschlossen. Der von Gergely Nemeti forsch verkörperte Achill riss das Geschehen als Verlobter Iphigenies zuletzt energisch mit Pistolenschüssen an sich. Das war ein unbestreitbarer dramaturgischer Höhepunkt dieser elektrisierenden und auf höchstem musikalischem Niveau stehenden Aufführung. Insbesondere Marina Prudenskaja präsentierte als ungeheuer emotionale und stimmgewaltige Klytämnestra eine fabelhafte Gesangsleistung. Das Bühnenbild wirkte wie ein riesiger Schiffsrumpf – und auch die Protagonisten hatten sich passagenweise Kunststoffschiffe auf die Köpfe gesetzt. Man begriff, wie unentrinnbar die Kriegsflotte der Griechen festlag. Der Priester Kalchas (facettenreich: Ronan Collett) nannte magisch die göttliche Bedingung, um den ersehnten Sturm zu entfachen und damit die Fortführung des Kriegszuges gegen Troja zu ermöglichen, nämlich den unaufhaltsamen Opfertod der Iphigenie. Der B-Dur-Hymnus des Kalchas wies hier krass auf die Ursache des unmenschlichen Befehls hin. König Agamemnon, seine Frau Klytämnestra, beider Tochter Iphigenie und deren Verlobter Achill waren tatsächlich nicht bereit, den Opfertod hinzunehmen und sich der Staatsräson zu opfern. Die Gefühlsinhalte der Handlung wurden von Andrea Moses (Bühne und Kostüme: Christian Wiehle) glaubwürdig auf die handelnden Personen übertragen. Das Motiv von Agamemnons Vaterschmerz korrespondierte dicht mit dem unerbittlichen Motiv gebieterischer göttlicher Forderung, während das Motiv mädchenhafter Anmut und Unschuld vom Motiv schmerzlichen Mitleidens ergänzt wurde. Szenische Glaubwürdigkeit wurde dadurch sinnvoll unterstrichen. Zwischen Herrscherpflicht und Vaterliebe schwankte spürbar Agamemnon. Herausragend war natürlich auch darstellerisch Marina Prudenskaja als zornige und dämonisch wirkende Klytämnestra. Gergely Nemeti stellte Achill als wütenden jungen Mann mit feurigem Elan dar, während die starre Gefühlskälte den Priester Kalchas beherrschte. In weiteren Rollen überzeugten Kai Preußker als Arkas, Ashley David Prewett als Patroklos, Urs Winter, Sebastian Bollacher als griechische Heerführer, Isolde Daum, Maja Tabatadze, Cristina Otey als drei Griechinnen sowie Dagmar Würthen als Sklavin.

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Mandy Fredrich. Foto: Agentur Hilbert

Der von Christoph Heil einstudierte Staatsopernchor brillierte vor allem bei den Schluss-Szenen mit leidenschaftlichen Steigerungen. Schon der Begrüßungschor „Welch ein Reiz, welche Majestät“ besaß große melodische Modernität. Man schien fast schon die Vorstufe zur Romantik zu spüren. Das waren musikalische Sternstunden der besonderen Art. Interessanterweise legten die beiden Dramaturgen Thomas Wieck und Moritz Lobeck bei dieser Wiederaufnahme Wert auf die aktuellen Bezüge des Krieges zwischen Israel und Palästina im Gaza-Streifen. So bekam die Aufführung ein beklemmendes Gewicht, zumal ein ergreifender Appell von Daniel Barenboim verlesen wurde. Wie geschickt der „Ritter Gluck“ das Intrigenspiel der damaligen Opernwelt durch die Betonung des Reinmenschlichen der Handlung durchbrach, machte diese Inszenierung von Andrea Moses ebenfalls plastisch deutlich. Und man begriff, wie stark gerade der Chor in die allgemeine Handlung eingriff. Steife Pathetik hatte hier glücklicherweise keinen Platz mehr, das Recitativo secco wurde zum Accompagnato erhoben. Hier ergaben sich dann motivische Verbindungen zur Arie und reizvolle Erweiterungen zum Arioso. Und die Da-Capo-Arie verschmolz zur großangelegten Form.

All diese besonderen Akzente arbeitete der konzentriert agierende Dirigent Nicholas Kok mit dem Ensemble mustergültig heraus. Alle Sängerinnen und Sänger befolgten hier Glucks Anweisung einer schlichten und liedhaften Melodik voll tragischer Spannung. Kaum zu glauben, dass Gluck in Frankreich einst  als „Barbaro tedesco“ (als „deutscher Barbar“) bezeichnet wurde. Man warf ihm vor, dass seine Musik stachlig, hart und seine Harmonik lärmend und roh sei. Nun, das Stuttgarter Ensemble strafte diese Behauptungen bei der gelungenen Aufführung Lügen. Trotz aller mythologischen Assoziationen weist Andrea Moses‘ Stuttgarter Inszenierung stark in die Zukunft. Zuletzt schienen von allen Beteiligten die falschen Masken abzufallen. Widerstreitende Gefühle und Erklärungen verstummten. Das Spiel an der Rampe machte deswegen betroffen. Ab der Spielzeit 2015/16 wird Mandy Fredrich übrigens festes Mitglied des Stuttgarter Solistenensembles werden.

 Alexander Walther

 

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