Stuttgarter Ballett: „TANZLABOR“ 15.10.2014 (Schauspielhaus) – Tanz unter Skulptur und Drogen
Ästhetisch faszinierende Wechselwirkung von Tanz und Skulptur: Alicia Amatriain in „A.Memory“. Copyright: Stuttgarter Ballett
Ein Überbegriff, der diesem dreiteiligen Programm mit Beiträgen ehemaliger wie aktueller Tänzer des Stuttgarter Balletts bestens gerecht wird. Im Mai hatte es Premiere und wurde nun in die neue Saison übernommen. Nicht nur die Bandbreite der Stücke und ihrer choreographischen Handschriften, auch z.T. neue Besetzungen lohnten eine wiederholte Betrachtung.
Douglas Lee hat seine Abschiedschoreographie von Stuttgart aus dem Jahr 2011 noch einmal aufgefrischt und mit der puren Konzentration auf den Tanz in einer Art Studio-Atmosphäre mit Proben-Trikots sein insgesamt faszinierendstes Stück entworfen. Der Titel „MINIATURES“ ist perfekt gewählt, reiht sich doch die Kette von Soli, Duos, Trios und sonstigen Kombinationen wie eine Serie von Miniaturen an die andere. Momentan nicht beschäftigte Tänzer warten seit- oder rückwärts stehend auf ihre Einsätze. Und die sind von einer hochkarätig artifiziellen Art, die Damen oft auf Spitze und mit gefährlich überdehnten Spagat-Positionen, die Herren mit speziellen Hebehaltungen vor dem Körper und um ihn geschlungen. Dazwischen wie vom Boden schwerkraftmäßig angezogene Bewegungsmuster, dann wieder weit nach oben oder hinten ausgestreckte Linien. Angetrieben bzw. in Form gehalten von einem Mix an minimalistischer Klaviermusik, deren viele Tonwiederholungen oder kurze Zäsuren dem Tanz immer wieder Momente des Innehaltens oder des Zeitlupen-Tempos ermöglichen. Die Verbindung von markanter Körpersprache und doch viel fließenden Elementen schafft eine Spannung, der sich die sechs TänzerInnen mit Hingabe aussetzen. Und wenn sich dieser Fluß auch anfangs bei Constantine Allen noch nicht ganz einstellen will, weil die schwere Arbeit sichtbar wird, schmälert das nicht die Intensität, die von seiner Präsenz ausgeht. Daniel Camargo und Alexander Jones haben es etwas leichter, während Alicia Amatriain und ganz besonders Elisa Badenes Kompliziertes wieder einmal so scheinbar leicht aussehen lassen. Für Halbsolistin Ami Morita bedeutet es ein um so schöneres Kompliment, wenn sie sich neben diesen beiden Assen erfolgreich behaupten kann.
Jüngstes Choreographie-Talent aus den eigenen Reihen ist Louis Stiens. In seiner ersten großen Arbeit für die Compagnie behandelt er jugendliche Erfahrungen und Begegnungen mit Drogenkonsumation und gliedert das schlicht „RAUSCH“ betitelte Werk in drei verschiedene Abschnitte vom Hochkommen, dem Gipfel und dem Herunterkommen. Der Tanz soll dessen unterschiedliche Formen als Zustand, als Gefühl, als Geräusch oder als Erlebnis übersetzen. Das gelingt nicht immer so ganz eindeutig – und das darf es auch bei einem Nachwuchs-Choreographen, der noch auf der Suche nach einer eigenen Handschrift ist – zeigt aber doch ganz anschaulich, wohin Drogen führen können, wie sie den Körper enthemmen, zu wummerndem Techno aus einer Lautsprecher-Brigade Aggressivität freisetzen und sich zu verstörend moderner Klassik Ernüchterung breit macht. In ihren Trainingshosen und mit freien Oberkörpern vermitteln die TänzerInnen das glaubhafte Bild von betroffenen Menschen, die noch nicht so lange dieser jugendlichen Phase entwachsen sind. Der introvertierte David Moore und der extrovertiertere Robert Robinson ergeben ein kontrastreiches Gegenüber, Angelina Zuccarini, Matteo Crockard-Villa, Alexander Mc Gowan und James Fisher lassen mal alle klassische Haltung hinter sich ohne sie als Wurzel ganz zu verleugnen; nur Rachele Buriassi verkörpert als Mutter, obzwar trotz sich abhebender Maske und Frisur dafür zu jung, das konventionellere Bild der Vormund-Rolle mit Einfühlsamkeit.
Eine Skulptur als Ausgangspunkt für Tanz und ihre gegenseitige Einwirkung hat Halbsolistin Katarzyna Kozielska zum Thema genommen und damit ihrer bis in die Kindheit zurückreichenden Faszination für Bildende Kunst ein Podium geschaffen. Und was für eines: ästhetisch, sinnenreich, kunstvoll und doch gut zugänglich. „A MEMORY“ ist eine Augenweide, zunächst einmal durch die zentrale Skulptur von Janet Echelman, ein trichterförmiges, sich immer wieder veränderndes Netz in Rot/Rosé-Tönen, das Tänzer aus dem Boden nach oben zieht, wie an einem Fallschirm hängend, und dem Tanz, ergänzt von harmonischer Beleuchtung einen schwebend leichten Charakter verleiht. Sandfarbene schlichte Trikots integrieren die TänzerInnen ganz in diesen Kunstraum, der doch so viel von der Wechselwirkung des Lebens begreifbar macht.
Weich federnde Bewegungen, auf Spitze wippende Körper, weit gestreckte und gereckte Arme – das alles zu einer das Ganze unterstützenden mäandernden Musik von Philipp Glass und besonders stimmungsvoll von Arvo Pärt.
Alicia Amatriain und Elisa Badenes bilden die Pole von Reife und Frische, Constantine Allen und Daniel Camargo sind die beiden strahlend freien Sympathieträger, Fabio Adorisio führt Rocio Aleman mit einer langen sicheren Hebung zu einem sehr konzentriert und nachdenklich auf einen engen Kreis bezogenen Solo auf Spitze.
Am Ende versinkt die Tänzerin vom Beginn wieder im Boden, zurück bleibt die Netz-Skulptur als eindrucksvolle Erinnerung. Und das Publikum jubelt. Auch die anderen beiden Arbeiten, vor allem Lees körperlicher Kraftakt, bekam einiges davon ab.
Udo Klebes