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STUTTGART: ORPHEUS UND EURYDIKE als Co-Produktion Oper & Ballett. Die Zeit wird zurückgedreht

20.06.2014 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

„Orpheus und Eurydike“ als Koproduktion von Stuttgarter Oper und Ballett im Opernhaus am 19.6.2014

DIE ZEIT WIRD ZURÜCKGEDREHT

„Orpheus und Eurydike“ als Koproduktion der Oper mit dem Stuttgarter Ballett am 19. Juni im Opernhaus

Unbenannt
Foto: Ulrich Beuttenmüler

 Regie und Choreographie von Christian Spuck sind in mehrerer Hinsicht eine Überraschung, denn der Tanz wird hier nie zum Selbstzweck wie etwa bei Pina Bausch, wo sich die Sänger im Graben befinden. Spuck nähert das Ensemble mit Chor, Orchester und Ballett einander an. Dabei entfaltet die weniger bekannte französische Fassung von Christoph Willibald Glucks Meisterwerk „Orphee et Euridice“ besondere Reize. Auf einer drehbaren Bühne sieht man den heruntergekommenen Ballsaal eines maroden Revuepalastes, wo die unbeherrschbare Seelenflut tänzerischen und musikalischen Einzug hält.

Orpheus möchte die Zeit zurückdrehen, was ihm natürlich nicht gelingen will. Der junge britische Tenor Stuart Jackson gibt hier sein vom Publikum bejubeltes Debüt als schlank singender Orpheus, dessen weiches und kerniges Timbre alle betört. Das Koloraturenfeuerwerk überzeugt dabei immer wieder mit facettenreichen figurativen Einwürfen, die C-Dur-Glanz beschwören. Überhaupt fesselt bei Stuart Jacksons Wiedergabe die Reinheit und Klarheit seiner Intonation. Wie stark Gluck Opernreformer war, der sogar einen Richard Wagner beeinflusste, wird bei dieser superben Aufführung mit dem durchsichtig musizierenden Staatsorchester Stuttgart unter der feinnervigen Leitung von Nicholas Kok deutlich. Der „Reigen seliger Geister“ mit dem berückenden Moll-Mittelteil kann sich so in sphärenhafter Weise entfalten. Zum Höhepunkt gerät der grandiose „Furien“-Tanz mit seinem Stretta-Charakter. Hier kommt der von E.T.A. Hoffmann schon beschworene dämonische „Ritter Gluck“ zum Vorschein, der laut seinen Zeitgenossen eine Respekt gebietende „Erscheinung“ gewesen sei. Als Liebesgott L’Amour kann Irma Mihelic die Zuhörer mit elegenhaften Air-Kantilenen fesseln, deren Intensität sich kunstvoll steigert. In der Pariser Fassung wird man dann nach dem Abgang des Orpheus mit einem Amoklauf der Geister konfrontiert. Hier hat das Stuttgarter Ballett seine Sternstunden. Es kommt nämlich zu einem wunderbaren Gleichgewicht von Tanz und Gesang. Diese überaus feine rhythmische Balance gerät nie aus dem Takt. Den Tanz versteht Spuck als subtile Reflektion der Konflikte und Befindlichkeiten der Protagonisten. Zwischen dem Staatsopernchor und dem Corps de ballet wird eine faszinierende Verschmelzung angestrebt. Es entsteht so ein singend-tanzendes Kollektiv-Wesen, dessen elektrisierende Wirkungskräfte sich sofort auf das Publikum übertragen. Christian Spuck begreift den schweren Weg des Orpheus als „schamanistische Jenseitsreise“. Wahrnehmungserweiterungen und Bewusstseinserweiterungen werden vom Stuttgarter Ballett kongenial umgesetzt, was sich sowohl beim Auftritt der Solopaare als auch bei der Suite de l’amour zeigt. Ein einziger Raum soll als Erde, Unterwelt und Elysium erfahren werden. Die Traumerfahrung wird so auch noch zur „Seelenreise“. Orpheus begegnen bei Spuck mehrfache Spiegelungen seiner ehemaligen Geliebten, Eurydike ist hier bereits im Elysium und möchte diesen Ort gar nicht mehr verlassen. So teilt sich der riesige Raum plötzlich in mehrere weibliche Personen auf. Amor behält in der weiträumigen Inszenierung von Christian Spuck allerdings nicht das letzte Wort. Eine unbeschwerte Hochzeit scheint kaum möglich zu sein, der Liebestraum wird zerstört, Erinnerungen an den tödlichen Schlangenbiss in die Ferse Eurydikes werden wach. Zuletzt ist der verzweifelte Orpheus in einem raschen Lichtwechsel wieder völlig allein (Licht: Reinhard Traub). Eurydike bleibt verschwunden. Interessant ist die Aufspaltung der Rolle der Eurydike in zwei Gesangsrollen, die die gesanglich voluminösen Darstellerinnen Catriona Smith und Maria Koryagova voll auskosten. Der Dirigent Nicholas Kok bekräftigt Glucks Opernreform-Ideen (Choreinstudierung: Christoph Heil). Das musikalische Selbstgespräch kann so der dramatischen und seelischen Situation gerecht werden. Die Arienteile gleichen sich bei dieser Wiedergabe stilvoll einander an, während das akribisch musizierende Orchester immer wieder andere Stimmungshintergründe wie Gewässer oder Lüfte in geheimnisvoller Weise zu beschwören scheint. Die homophone Führung des vierstimmigen Chores zeigt ebenmäßigen Glanz. Jugendlicher Humor erobert bei Amors Auftritt die Bühne. Im zweiten Akt gewinnen die Schauer der Unterwelt aufgrund der gelungenen Unisono-Attacken der Bläser große Strahlkraft und Präsenz. Rezitative spitzen sich immer drängender zu, die Katastrophe entfaltet sich mit ungestümem Feuer. Die berühmte Tenor-Arie „Ach, ich habe sie verloren“ bettet Kok als Orchesterleiter hier in einfühlsamer Weise ein. Sehr gelungen ist auch die Schluss-Szene im Tempel des Eros. Der Zauber verschiedener tänzerischer Elemente kommt zu reiner Entfaltung. Vor allem die bei Gluck deutlich ausgesprägte motivische Arbeit sticht bei dieser Interpretation deutlich hervor. Der Einfluss Rameaus ist unüberhörbar. Wie stark Gluck als kunstvoller Vermittler zwischen Barock und Klassik gewirkt hat, vermittelt diese visuell überwältigende Aufführung ebenfalls. Störende Stilbrüche vermag Christian Spuck auch aufgrund des abwechslungsreichen Bühnenbildes von Christian Schmidt und den Kostümen von Emma Ryott zu überwinden. Der bewegliche Fluss kommt so nie zum Stocken. Dass Gluck die Orchesterbegleitung durch dramatische Sinngebung belebte, lässt Nicholas Kok mit dem Ensemble lebendig werden. Die schlichte und liedhafte Melodik voll tragischer Spannung wird insbesondere von den Sängerinnen und Sängern gut beherrscht. Man begreift, warum seit Gluck die Da Capo-Arie nicht mehr im Gegensatz zum Rezitativ steht. Nicht Affekte, sondern der ganze Mensch wird hier gezeigt. Das macht diese Koproduktion der Oper mit dem Stuttgarter Ballett zu einem Gewinn (Dramaturgie: Sergio Morabito).

 Alexander Walther

 

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