STUTTGART: „THE KABUKI“ – GASTSPIEL DES TOKYO BALLET 06.06.2014 – Japanisches Nationalmythos als opulentes Tanzbühnenwerk von Maurice Béjart
Moderne vereint mit Tradition: Dan Tsukamoto als Gangführer der Gegenwart und als Samurai Yuranosuke Foto: Stuttgarter Ballett
Selten hat eine Gastkompanie die Gelegenheit, sich in Stuttgart zu präsentieren, doch dieses Jahr bekam auf Einladung von Ballettintendant Reid Anderson das Tokyo Ballet diese Chance und brachte ein faszinierendes Werk mit, das Maurice Béjart 1986 in Tokio kreierte – „THE KABUKI“ – und welches das Publikum im Opernhaus für einen Abend lang in die fernöstliche Welt des alten Japans eintauchen ließ.
Die Handlung beginnt jedoch in einer Disco im modernen Tokio, symbolisiert durch viele über die Bühne hängende Flachbildfernseher und Pop-Rockmusik. Eine Gang Jugendlicher tanzt darauf jedoch klassisch, gemischt mit Spektakulärem wie den gestreckten Danilova-Seitensalto und Akrobatikelementen am Boden, bis eine geheimnisvolle Frau, als Krieger verkleidete, ein altes Schwert hervorbringt. Als der Anführer der Gang dieses in die Hand nimmt, beginnt seine Reise in die Vergangenheit und er wird Zeuge und Teil der Geschichte „Die Rache der 47 Rōnin“ (der herrenlosen Samurai), auf der das Stück basiert. Sie gehört zu den Nationalmythen Japans und erzählt Ereignisse vom Anfang des 18. Jahrhunderts, die als vorbildliches Beispiel für das Ethos der Samurai gelten: provoziert durch einen Hofbeamten, greift ein Provinzfürst diesen in der Burg von Edo (dem heutigen Tokio) mit einem Messer an, was damals als Straftat galt, die mit der Todesstrafe geahndet wurde. Der Fürst muss daraufhin Seppuku (rituellen Suizid) begehen, wodurch dessen Ländereien an den Shōgun fallen und seine Samurai zu Rōnin werden. 47 davon konnten dies nicht einfach hinnehmen und beschlossen dem Bushido, dem Kodex der Samurai, zu folgen, ihren Herren zu rächen und danach gemeinsam Seppuku zu begehen, denn in solchen Fällen war Blutrache verboten.
Präzision in farbenprächtigen Kostümen – Mizuka Ueno als Kaoyo Gozen, die Frau des gerächten Fürsten. Foto: Stuttgarter Ballett
Béjart, der Japan sehr verbunden war – was sich auch darin widerspiegelt, dass er dem Tokyo Ballet alle Aufführungsrechte an seinem Werk überließ – und sich leidenschaftlich für den Buddhismus und dem davon geprägten Nō-Theater der Samurai interessierte, inszenierte die Geschichte als Kabuki – ein ebenfalls traditionelles japanisches Theater, bestehend aus Gesang, Pantomime und Tanz. Die sehr komplexe Handlung mit vielen Charakteren und Nebenhandlungen wird in neun Szenen erzählt, deren Bedeutung sich dem Publikums sicher nicht ohne Vorkenntnisse erschließt, die jedoch hervorragend unterstützt wird durch Toshiro Mayuzumis Musik, die auch Gesang enthält, sowie Nuno Côrte-Reals abwechslungsreichem Bühnenbild (u. a. bestehend aus riesigen, bemalten Paravans, die als Hintergründe auf die Bühne gezogen werden) und den opulenten und farbenprächtigen Kostümen. Die Choreographie basiert auf Béjarts bekannter neoklassischer Bewegungssprache, die als revolutionär gilt, hier jedoch die Tänzer, mit wenigen Ausnahmen, vor keine großen technischen Herausforderungen stellt. Was beeindruckt ist eben „The Kabuki“ – das Theater voller traditioneller japanischer Symbole, streng ritueller Gesten, Mimiken und Posen, vereint mit klassischen Soli und Pas de deux, in denen vor allem Mizuka Ueno als Kaoyo Gozen, die Frau des gerächten Fürsten, durch Geschmeidigkeit und einwandfreie Technik glänzt. Gleichermaßen verfügt Ueno aber auch über eine große Bandbreite an Mienenspiel, wodurch sie (Tanz-)freude, Ablehnung, tiefe Trauer, Stolz u. v. m. ausdrücken kann. In der Hauptrolle überzeugt Dan Tsukamoto als Gangführer aus der Gegenwart, dessen Schicksal durch eine Verwechslung mit dem des obersten Gefolgsmannes des Fürsten, Samurai Yuranosuke, der spätere Anführer der Rōnin, verschmilzt. Etwas schwerfällige Sprünge und einige Unsicherheiten bei den Drehungen macht Tsukamoto mit sehr reifer Leistung und viel Ausdruck wieder wett, vor allem im Solo vor dem großen Showdown und als Krieger, der die Rōnin bei Sonnenaufgang ein allerletztes Mal, zum würdevollen Tod, anführt.
Gefordert wird in „The Kabuki“ jedoch das gesamte Corps de ballet, dem sicher auch eine Hauptrolle zugesprochen werden kann, beeindruckt das Stück doch vor allem durch viele Gruppenszenen, ausgeklügelte Kampfformationen und üppigen Kostüme, in denen die langsamen, ausdrucksstarken Bewegungen und Gesten, die viel Präzision verlangen, sicher nicht einfach auszuführen sind, auch wenn das Ensemble dies leicht aussehen lässt, was für die Wirkung unerlässlich ist.
Das Tokyo Ballet hat sich im Jahr seines 50. Jubiläums mit einem der Grundpfeiler seines Repertoires hervorragend präsentiert und wurde durch das Stuttgarter Publikum mit viel Applaus belohnt. Zu hoffen bleibt, dass Gastkompanien wie diese hier in Zukunft noch öfters zu sehen sein werden.
Dana Marta