Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

STUTTGART/ Junge Oper im Kammertheater: RADIO NIMMERLAND oder Die Macht des Radios von Barbara Tacchini. Premiere

15.03.2014 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

Radio Nimmerland“ im Kammertheater Stuttgart DIE MACHT DES RADIOS

„Radio Nimmerland“ im Kammertheater Stuttgart/STUTTGART – 14.3.2014

Darf ein Radio solche Macht haben? Dem Vater wächst die Arbeit und der Alltag über den Kopf und eine alleinerziehende Lastwagenfahrerin hat keine Zeit für Gutenachtgeschichten. Und über allem thront die ins Riesige gewachsene Radiostation, mit der die 17 Darstellerinnen und Darsteller (sehbehinderte und nicht behinderte Kinder und Jugendliche in Zusammenarbeit mit der Theatergruppe Dunkelmunkel und der Betty-Hirsch-Schule der Nikolauspflege) ihre liebe Not haben. Der Regisseurin Barbara Tacchini ist die schwierige Arbeit mit den Sehbehinderten exzellent gelungen, denn man kann hier nur bewundern, wie gut sich die jungen Darstellerinnen und Darsteller in den harmonischen Fluss einfügen. Auch der Junge, der von „Radio Nimmerland“ getröstet wird, weil er Elfen sieht, sowie Remys Songs „Ich bin hier allein“ sowie „Ich will nach Nimmerland“ werden von Plastikschläuchen, Blecheimern, Planschbecken und Plastikwannen akustisch und rhythmisch einfallsreich begleitet.

So steigert sich die dramaturgische Spannung erheblich, als einige Radiohörer auf mysteriöse Weise verschwinden. Sie haben die Absicht, auf Nimmerland ein neues Leben zu beginnen. Durch ein Monster werden alle Nimmerländer in Schildkröten verwandelt, was die 17 Darstellerinnen und Darsteller mit wirklich erstaunlicher Beweglichkeit bewerkstelligen. „Mobbing“- und „Sturm“-Sequenzen wecheln sich immer wieder in geradezu atemloser Geschwindigkeit ab, begleitet von geheimnisvollen „Klangdreiecken“, die auch an die Zuschauer verteilt werden. Weitere visuelle und akustische Höhepunkte sind der „Elfenball“, die rasanten Szenen „Auf der Autobahn“ oder die Klage über die „Einsamkeit“ im Radio. Bei diesen wunderbar gespielten und gesungenen Szenen wächst die Gruppe aber in ausgezeichneter Weise zusammen. Da hat auch der hervorragende musikalische Leiter Jochen Fassbender höchst einfühlsam agiert, was man bei der Szene „Sprechende Fische“ und dem“Plattenvertrag“ deutlich wahrnimmt. Monster und Schildkröten wetteifern zuletzt „On Air again“, die grünen Kleider und gelben Regenmäntel illustrieren das wiederholt ausufernde Bühnenbild und das Ausstattungskonzept von Barbara Tacchini, Line Sexauer und Anika Roll (Mitarbeit Kostüme). Unzählige „Geisterfahrer“ erklären sich so aufgrund der wütenden Zwischenrufe des Moderators zum „Notfall“. Remy verlässt schließlich die Radiostation und lässt Julia am Boden zerstört zurück. Und sie hört laute Hilferufe aus Nimmerland.

Aber zuletzt begreift man, dass die Handlung letztendlich doch kein Spiel war und die sagenhafte Radio-Insel tatsächlich existiert: „Auf Nimmerland duftet der Wind, aber je nach Situation anders“. Dann fasst sich die gesamte Gruppe an den Händen und verabschiedet sich rund um das große Rondell herum laufend vom Publikum, das begeistert Beifall klatscht. Es ist berührend, mitzuerleben, mit wie viel Liebe zum Detail die Regisseurin Barbara Tacchini gerade mit den behinderten Jugendlichen gearbeitet hat. Das merkt man auch hinsichtlich der Sicherheit ihres Auftritts und ihres mimischen Spiels. So kann man auch hinter das Geheimnis der Schildkröte kommen, die ihre verletzliche Seele vor der Welt behüten will. Verzaubernd wirken auch die Klänge der Glasharfe und die Laute von Metallröhren und Ballastsaiten. Man spürt, wie stark hier die Improvisation ist. Daraus entwickeln sich auch die Figuren der Geschichte. Im Gedächtnis bleibt vor allem das kompositorisch gelungene Piratenlied, wo die jungen Darstellerinnen und  Darsteller ganz aus sich herausgehen. Aber man weiß hier manchmal wirklich nicht, was Schein ist und was Wirklichkeit. Fazit: Es ist eine szenisch spannende Arbeit mit völlig neuer Sichtweise. 

 Alexander Walther

 

Diese Seite drucken