Stuttgart/ Kammertheater; „Du weißt einfach nicht, was die Arbeit ist“ im Kammertheater Stuttgart
UM ZU ÜBERLEBEN, MUSS MAN EIN MAFIOSI SEIN am 17.10.2014
Johann Jürgens, Peter Kurth. Astrid Meyerfeldt, Christian Schneeweiß. Foto-Copyright: JU Ostkreuz
Im Kammertheater ist das Stück „Du weißt einfach nicht, was die Arbeit ist“ zu sehen. In diesem neuen, satirisch angehauchten Stück geht der talentierte Autor und Regisseur Rene Pollesch den vielfältigen Unterschieden zwischen Arbeit, Beschäftigung sowie sichtbarer und versteckter, vermeintlicher und eigentlicher Arbeit nach. Als „alter Bekannter“ des Schauspiels Stuttgart ist Rene Pollesch sein 15 Jahren dem Stuttgarter Publikum bestens verstraut. Ihm stehen mit Johann Jürgens, Peter Kurth, Astrid Meyerfeldt und Christian Schneeweiß hervorragende Schauspieler zur Verfügung, die die sehr „religiös“ gestaltete Bühne von Janina Audick mit ihrer großen Wandlungsfähigkeit und darstellerischen Präsenz virtuos ausfüllen.
Video- und Live-Kamera von Tobias Dusche beleben das visuelle Geschehen ungemein, denn gerade Peter Kurth amüsiert die Zuschauer als seltsamer Bischof, der auch als Italienisch-Dozent unterwegs ist und die von Astrid Meyerfeldt facettenreich gemimte Dame verführt: „Wie kommst du dazu, mein Begehren anzustacheln?!“ So kommt es nicht nur im Beichtstuhl zu unglaublichen Verwirrungen, die sich im Laufe des Abends immer weiter steigern. Auch die beiden anderen Schauspieler Johann Jürgens und Christian Schneeweiß geraten rasch in Astrid Meyerfeldts erotischen Bann – und sie kommen dann plötzlich zu der erschreckenden Erkenntnis, dass auch sie nicht wissen, was die Arbeit ist. So geraten sie in einen neurotischen Rausch, der fast in einer Psychose endet.
Auf der Bühne sieht man eine kommunistische Sichel sowie eine Jesus-Statue, und so wird denn auch eindringlich über Gott und die Welt und vor allem Jesus philosophiert. Man fühlt sich bei der Inszenierung wie auf einer Modenschau, wo neben den Models auch Leute mitlaufen, die gar keine Models sind. Aber der erlösende Zaubertrick bleibt aus. Zuweilen wähnt man sich sogar in einer imaginären Talk-Show, weil Astrid Meyerfeld in den verschiedensten Rollen eine brillante schauspielerische Leistung bietet. Video und Live-Kamera von Tobias Dusche zeigen den grellen Unterschied von Realität und Fiktion, denn im nächsten Augenblick kommt die Video-Figur ganz realistisch zur Bühnentür herein. Schließlich diskutiert Astrid Meyerfeldt mit dem seltsamen Bischof über den Unterschied von Protestantismus und Katholizismus. Und als sie diese nicht findet, möchte sie sich sehr echauffiert sogar über ihre Kontaktlinsen beschweren, die sie einfach verloren hat. Schließlich stellt der Bischof fest, dass man ein Mafiosi sein müsse, um die Welt zu überleben.
Ein großer aufgeblasener Hammer löst bei Astrid Meyerfeldt exaltierte Gefühle aus. „Weißt du, Liebling, wir sind leider keine Materialisten – materialistisch ist nur die Kirche„, lautet die nüchterne Erkenntnis dieser skurrilen Protagonisten. Und Astrid Meyerfeldt ergänzt diesen Satz als stets exaltierte Dame: „Während die Kreativen und ihr Kreativitätswunsch, der gleichzeitig ein Befehl ist, immer mehr in eine postmaterialistische Mittelschicht reinsickerte…“ Man spürt bald, dass bei Pollesch jene Typen, die sich dauernd selbst erschaffen, das eigentliche Problem sind. So kann man keiner standardisierten und sachlichen Tätigkeit mehr nachgehen, wie zum Beispiel die Leute in einem Gottesdienst. Und so kommt Pollesch zu der Erkenntnis: „Es wird zuviel geglaubt. Also nicht in der Kirche, sondern da draussen. Deshalb mein Bekenntnis zum Christentum“. Und die Meyerfeldt fügt sarkastisch hinzu: „Ich bin Naturpunk! Das ist das, was man früher konservativ nannte.“ Voll Situationskomik wirken auch jene Szenen, wo sich die Darsteller reihenweise küssen. Da ufert die Handlung im „Wett-Küssen“ regelrecht aus. Björn Lorenz, Patricia Riegraf und Robert Meiser als Ton- und Videostatisten sorgen für ein opulentes Bühnenbild. Die Kostüme von Svenja Gassen unterstreichen diesen Aspekt (Dramaturgie: Anna Haas). Das Verhältnis von Arbeit, Muße und die ständige Betriebsamkeit in unserer Freizeit werden hier messerscharf aufs Korn genommen. Dabei stellt sich im Kammertheater die entscheidende Frage nach den politisch-ökonomischen Grenzen der Lohnarbeitsgesellschaft.
Alexander Walther