Stuttgart: Gauthier Dance: „OUT OF THE BOX IV“ 18.12.2013 (Premiere 15.12.) – Verrückte Phantasien
Ein Lichtblick: Florian Lochner in seinem eigenen Stück „Wan / del / bar“ und gemeinsam mit Miriam Gronwald in deren „This side of the truth“
Copyright: Regina Brocke
Das 13köpfige Tanzensemble hat sich inzwischen so etabliert, dass sein renommierter Chef Eric Gauthier an einem Programm nicht mehr unbedingt beteiligt sein muss, um auf großes Interesse zu stoßen. So war er an dieser vierten Auflage mit choreographischen Ausflügen der Tänzer weder als Tanzschöpfer noch als Tänzer beteiligt. Eine persönliche Begrüßung und eine kurze launige Einführung des Publikums lässt er sich allerdings nicht nehmen, auch wenn sie diesmal von seitlich der Bühne aufgestellten Bildschirmen kam.
Auf diesem Weg stellten sich auch die acht TänzerInnen-Choreographen dieses Programms mit ein paar persönlichen Gedanken zu ihrem Stück vor. Allen neuen Arbeiten ist eine blühende Phantasie zu bescheinigen, deren Wege aber meist so verschlungene Pfade sind, dass bei aller individuellen Ausprägung denn doch zu viele Fragen offen blieben, um neben intellektuellem Anspruch auch den des Unterhaltungs-Genusses zu gewährleisten. Letzterer prägt doch mehrheitlich die inhaltliche Schiene von Gauthier Dance, weshalb dieses Programm mehr für die Hardcore-Tanzliebhaber prädestiniert ist.
Sowohl die behandelten Themen und Ideen als auch der innerhalb eines Stückes vorherrschende musikalische Stilmix aus alten Evergreens bis zu zeitgenössischer Klassik und elektronisch erzeugten Geräuschkulissen tragen zu diesen vielfach divergierenden Eindrücken bei. Eine unmittelbare Inspiration durch die Musik selbst ist allenfalls bei zwei oder drei Stücken auszumachen, wodurch auch ein einigermaßen fließender Verlauf ermöglicht ist:
„THIS SIDE OF THE TRUTH“, ein Pas de deux von Miriam Gronwald zweier Suchender nach der Beantwortung von schlichten Existenzfragen; „MAY-BE“ von Rosario Guerra, ein Vier Mann-Stück über den sinnbildlichen und in einer weißen Leinwand vorhandenen Spalt zwischen Realität und erträumter Verwandlung zur Perfektion sowie „WAN / DEL / BAR“, hinter dessen Sprachspielerei sich schnelle Verwandlungen dreier Tänzer mittels einer schwarzen Box verbergen und von Florian Lochner mit einigen Überraschungseffekten aus dem dichten Nebeneinander von Bizarrerie und Komik aufgeladen wurde.
Der schnelle Wechsel oder gar die Gleichzeitigkeit von Skurrilität und Heiterkeit bestimmt generell auch die weiteren Beiträge. Anna Süheyla Harms, jüngst mit dem Theaterpreis „Der Faust“ ausgezeichnet, und mit Grandezza-Präsenz die momentan stärkste Persönlichkeit der Compagnie zeigt in „SEETHING BENEATH“ Menschen, die zu Minimal Music unter die Oberfläche schauen und Geheimnisse zu Tage fördern. „A THOUSAND SILVER DROPS“ ist ein von Garazi Perez Oloriz auf einem roten Teppich entwickeltes tragi-komisches Spiel schneller Veränderungen mit Slapstick-Charakter. Maria Prat Balasch hat sich mit „VESTE’N“ ein Solo auf den Leib choreographiert, in dem sie eine Weile damit kämpft, die Grenze nach vorne zu überschreiten und die nicht mehr zu ändernde Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sehr nachvollziehbar, aber doch etwas introvertiert in der Dringlichkeit des Ausdrucks. Sebastian Kloborg fragt sich in „WAYS TO GO“ was passiert, wenn einander unbekannte Menschen Aufgaben lösen müssen, die nicht den geringsten Sinn machen. Ein Zufallsspiel aus Aktionen und Gegenreaktionen, das ebenso zerrissen und zu lang geraten ist wie „CRAZY LAMBS“, ein reichlich skurriles, ja schizophrenes Versuchslabor im Irrenhaus, wo sich Mütter, die ihre Söhne verloren haben, im Wahnsinn an Puppenbabies vergehen. David Valencia muss sich die Frage gefallen lassen, wozu es dazu überhaupt noch der Kunstform des Tanzes bedarf. Oder ist es ein bewusster Ausbruch aus dem, was die Tänzer sonst den ganzen Tag tun, ein Tanztheater, das mehr aufrütteln, verstören soll anstatt dem Publikum auch eine sinnliche Erfahrung mitzugeben?
Ein fordernder, aber in der Summe leider ernüchternder Abend, für den die Tänzer, auch aufgrund der verletzungsbedingt ausgefallenen Anneleen Deedrog, noch verstärkt investiert haben und wohl hauptsächlich für ihre Interpretationen, weniger für ihre Werke, durchaus begeistert bedankt werden.
Udo Klebes