Stuttgart: „DER SCHAUM DER TAGE“ 7.12. 2012 (Premiere 1.12.) – Manifest des Surrealismus
Hochzeitsszene mit Jesus. Foto: A.T.Schäfer
Der 1996 verstorbene Russe Edison Denisov hat in seiner Vorliebe für den Surrealismus einen der erfolgreichsten Romane dieser Stilrichtung, „L’écume des jours“ von Boris Vian aus dem Jahr 1946, als Vorlage für eine szenische Vertonung aufgegriffen und die darin enthaltenen Dialoge für sein Libretto dort durch zusätzlichen Text ergänzt, wo beim Autor gar nichts gesprochen wird. Dem in drei Akten mit 14 Bildern (des Komponisten Faible für die Malerei entsprechend „Tableaux“ genannt) und mehreren überleitenden instrumentalen Intermezzi gegliederten Werk sollte jedoch kein Glück beschieden sein. Schon bei der Uraufführung 1986 an der Opéra Comique in Paris wurde das Werk durch Striche und eine gegen die Partitur gerichtete Zweiteilung des Orchesters in Bühne und Graben entstellt. In dieser verstümmelten Form gelangte das Werk trotz des Misserfolgs zu Aufführungen in Perm, Gelsenkirchen und Mannheim, die jedoch ohne weiteren Nachhall geblieben sind. Dank des Einsatzes von Stuttgarts neuem GMD Sylvain Cambreling, der damit seinen offiziellen Einstand feierte, wurde Denisov nun durch die Wiederherstellung der Urfassung Genüge getan, weshalb die Stuttgarter Oper mit gutem Recht die eigentliche Uraufführung des Werkes für sich verbürgen kann. Und wenn der Surrealismus mit seiner Neigung zu absurd ausartenden Phantasien schon nicht jedermanns Geschmack sein kann, so dürfte die von Cambreling mit höchster Transparenz aufgeschlüsselte komplexe Musik in Verbindung mit der genauen, dringlichen wie auch konsequenten szenischen Umsetzung durch den Hausherrn Jossi Wieler und seinen Co-Dramaturgen Sergio Morabito dennoch so hohe Wellen schlagen, dass sich künftig mehr Theater damit beschäftigen werden. Der erstaunliche Erfolg, der dem Werk bei dieser dritten Vorstellung nun auch vor einem Abonnement-Publikum beschieden war, lässt jedenfalls hoffen.
Das Bizarre dieses Lyrischen Dramas, so die genaue Betitelung, liegt in der Gleichzeitigkeit von Abgestoßensein und Faszination. Im selben Moment, wo die Neigung entsteht, den Kopf über so manche Details zu schütteln, entfaltet sich eine ansprechende Wirkung. Das Stück lebt auch von der Vielfältigkeit der Themen, die Denisov als Verfolgter der kommunistischen Kultur-Verordnung in mit Poesie behandelte überwirklich verfremdete Bilder übersetzte. Dies war die einzige Art an versteckter Rebellion gegen das System, welche als Alternative nur den Gang in die innere Emigration ermöglicht hätte. Die im Kern einfache, aber durch die Verquickung von Gesellschaftspolitik, Umwelt und Religion als zentralen Punkten nicht linear verlaufende Handlung spielt im Paris der Nachkriegszeit. Mittelpunkt ist der wohlhabende Colin, der den Koch Nicolas und eine Hausmaus, eine spezielle Art von Kammerdiener im karierten Minikleid, grauen Strümpfen und zotteligen Haaren beschäftigt. Der belgische Schauspieler Sebastien Dutrieux gestaltet diese stumme Rolle mit diffiziler, fast choreographischer Beweglichkeit fernab jeder Niedlichkeit als im Grunde genommen tragisches Wesen, das am Ende das Leiden Colins am Tode seiner geliebten Frau Chloe nicht mehr ertragen kann und in seinen einzigen gesprochenen Worten die Katze ( Ansi Verwey mit immanentem Bewegungsgestus) bittet, sie zu töten. Diese schlägt vor, den Kopf in ihr Maul zu legen und zu warten, bis ihr jemand auf den Schwanz tritt, um den Reflex des Zubeißens auszulösen. Während beide in dieser Stellung verharren, überquert eine Schar, mit ihrem Gesang den Herrn preisender blinder Mädchen (Kinderchor der Staatsoper) die Bühne. Licht aus. So offen wie dieser Schluss ist letztendlich alles in diesem Stück. Dazwischen hat Colin auf der Geburtstagsparty von Isis (Pumeza Matshikiza mit blendender Ausstrahlung), der er beim Eislaufen vorgestellt wurde, besagte Chloe kennengelernt und später geheiratet. Diese stirbt aber an einer von Roland Brachts schillernd zwiespältig ausgefülltem Doktor mit dem bezeichnenden Namen Mangemanche diagnostizierten Seerosen!-Wucherung in ihrer Brust. Ob der vielen Blumen, mit der ihr immer wieder Linderung verschafft werden konnte, hat Colin sein ganzes Vermögen aufgebraucht und ist schließlich gezwungen, auch sein Pianocktail zu verkaufen, eine Wunderorgel, bei der je nach Note und Tonlänge unterschiedliche Düfte verbreitet werden und Aromen ausströmen, die schließlich die Cocktail-Mischungen bestimmen. Während Chloe eingehüllt in einen Berg von bunten Blumen dahinsiecht, bemüht sich Colin notgedrungen um Arbeit in einer Waffenfabrik, deren mit Orden behangener Direktor von Karl Friedrich Dürr passend großtuerisch und mit etwas grobschlächtiger sprachlicher Expressivität karikiert wird. So wie der achtköpfige Aufmarsch von Schutzmännern und ihrem Vorgesetzten (Marcel Beekman, der auch später als Priester mit hell und klar geführtem Tenor auf sich aufmerksam macht), die mit Überdeutlichkeit und große Oper persiflierenden Koloraturen in höchsten Lagen die Steuern von Colins säumigem Freund Chick eintreiben wollen. Dessen Beziehung zu Alise, der Nichte des Kochs, scheitert allerdings an seiner alles überragenden Vorliebe für Jean-Sol Patre ( was für eine Verballhornung des berühmten Schriftstellers! ), in die er alles Geld hineinsteckt. Unter verabreichten Stromstößen verendet er qualvoll sein Leben. Daniel Kluge füllt diesen etwas wirren Zeitgenossen mit feinem Tenor pointiert aus. Alise wiederum rächt sich, nachdem ein Annäherungsversuch bei Colin missglückt ist, am schuldigen Patre, in dem sie die Bücher Chicks auf offener Bühne verbrennt und dabei unter hysterischem Lachen und Schreien selbst von den Flammen erfasst wird. Hier wächst die zuvor etwas zahme und vokal leicht flackrige Sophie Marilley in totaler Hingabe über sich hinaus. Als skurril ist der Auftritt des Apothekers (Yves Lenoir) einzureihen, den Colin um Arznei für Chloe bittet und das Medikament dann wie Eier legt. Mutig, aber konsequent lässt Denisov Jesus persönlich im Lendenschurz und historischer Frisur auftreten, zuerst bei der Hochzeit und dann, um seine Kritik an falscher Religions-Auslegung einzustreuen, indem Colin mit dem Schmerzensmann in Dialog tritt und ihn für Chloes Tod verantwortlich macht. Mark Munkittrick spielt und artikuliert diesen heiklen Part mit sehr viel Einfühlsamkeit.
Im Prinzip ein Ensemble-Stück, sind es doch die beiden Hauptfiguren, die auch musikalisch gesehen als richtige Opernparts mit phasenweisen Melodien und dem ansonsten dominierenden Sprechgesang hervortreten. Eine Idealbesetzung als Colin ist der mit einer treffsicheren Mischung aus Sunnyboy-Charme und seriöser Charakterisierung ausgestattete Brite Ed Lyon, der die Subtilitäten des Textes mit seinem oratoriengeschulten, klangvoll geraden Tenor exquisit auslotet. Und nicht weniger seine Landsmännin Rebecca von Lipinski mit einem Sopran voll üppiger lyrischer Substanz, der ihre spielerisch naive und ehrliche Größe als Chloe im erfrischend blumigen Kleid (wie alle auffallend textgetreuen Kostüme von Anja Rabes) noch unterstreicht.
Immanent zu den vielen schrägen Typen dieses Bilderbogens hat Denisov seine Form der an Alfred Schnittke erinnernden Polystilistik angewandt, sich zahlreicher Zitate aus der Musikgeschichte (Debussy, Wagner) bedient und diese zu einer eigenen Klangsprache verwoben, die sich bei allem Rückgriff auf Traditionelles heute moderner ausnimmt als zur wilden Avantgarde ihrer Entstehungszeit. Somit dürften jetzt bessere Chancen für eine weitere Verbreitung bestehen. Zwischen dem kammermusikalischen Gewebe mit solistischen Streichern und Holzbläsern sind immer wieder Musical- und Jazz-Anlehnungen zu vernehmen, so z.B. bei der Hochzeit (bei der auch die beiden Ehrenschwulen Coriolan! (Kai Preußker) und Pegasus! (Marcel Beekman ) mitmischen), in den beiden Liebesszenen zwischen Colin und Chloe oder auch dem von Arnaud Richard als Koch Nicolas köstlich kabarettistisch servierten Rezept für seine Aalpastete. Genau diese Momente schaffen dann die Verbindung zu Duke Ellingtons Song von Chloe, der sich als immer wiederkehrendes Motiv durch die Partitur zieht. Da kommt die integrierte Percussion- und Combo-Besetzung zu ihrem Recht und sorgt gar für Momente mit unterhaltendem Charakter. Das Staatsorchester Stuttgart kommt diesen mannigfach wechselnden Vorgaben mit präzisem und wo nötig auch lockerem Musizieren nach. Der Staatsopernchor (einstudiert von Johannes Knecht) wiederum hat seine Einsätze als liturgischer Kontrapunkt vor allem aus dem Hintergrund mit mittelalterlich anmutenden A Cappella Gesängen.
Szenisch finden all diese Klangfarbenräume ihre Umsetzung auf der von Jens Kilian praktikabel geschaffenen Bühne, wo im Vordergrund auf der ganzen Breite vier Stufen zur Hauptspielfläche führen, die mit den notwendigsten Requisiten die Örtlichkeiten andeutet und sich nur für die Hochzeitsszene und die Schlussszene ganz nach hinten zu einem restaurantartigen Saal mit Säulen und Fensterfronten öffnet. Ansonsten sorgen Video-Einblendungen von Chris Kondek für die im Libretto beschriebenen surrealistischen Bilder, deren drastische Visualisierung in Form von Horror und Umwelt-Katastrophen ohne dieses Medium gar nicht möglich wäre.
Es geschieht also verdammt viel in diesem Konglomerat des Abnormalen. Wen sowohl das Inhaltliche wie das Musikalische abstößt, kann sich immer noch auf die Raffinesse der französischen Sprachmelodie konzentrieren, die in den Texten dank selten überlagernder Orchestrierung einen delikaten Reiz ausübt.
Viel wohlwollende Zustimmung mit Ovationen für das Hauptpaar und den Dirigenten,
Udo Klebes