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STUTTGART: ALCINA – „Tummelplatz der Ängste und Hoffnungen“

30.01.2013 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

 Stuttgart: „ALCINA“ 29.1. 2013– Tummelplatz der Ängste und Hoffnungen


Ruggiero (Diana Haller) in den Liebesfängen Alcinas (Netta Or). Copyright: A.T.Schaefer

Wenn sich auch der ursprüngliche Zauber der nunmehr bald 15 Jahre alten Inszenierung des Hausherrn Jossi Wieler und seines festen dramaturgischen Partners Sergio Morabito bei der inzwischen 57. Vorstellung nicht mehr vollumfänglich einstellt, bleibt es doch gesamtheitlich – von zwei aktuelleren Produktionen abgesehen – deren überzeugendste Arbeit für die Stuttgarter Opernbühne. Das Verlagern der verwunschenen, märchenhaften Handlung auf eine zutieftst menschliche Ebene mit der Sichtbarmachung aller Begehrlichkeiten und Befindlichkeiten der im wahrsten Sinne des Wortes mit einander verstrickten Personen führt das Stück als Ganzes näher an den Zuschauer heran. Wobei das beständige Ausspielen allerlei Reaktionen auf die Kette an wechselnd virtuosen und nachdenklichen Arien kaum zum Stillstand führt, sondern unablässig am Ball hält. Die Genauigkeit, mit der dies auch jetzt noch über mehrere Besetzungswechsel hinweg geschieht, und wie anstatt der bei Händel sonst üblichen einzeln auf sich gestellten Bravour-Interpreten ein Ensemble-Miteinander gefordert ist und auch stattfindet, stellt dem Verständnis des Hauses vom Erhalten und Bewahren einer Regie wieder einmal ein hervorragendes Zeugnis aus.

Selbst Anna Viebrocks typisch verschlissener Bühnenraum mit zentralem kunstvoll ornamentiertem Riesenspiegel entfaltet einen speziellen (beleuchtungstechnisch unterstützten) Zauber und zeigt, dass sogar Schäbigkeit ihren Reiz haben kann.

In den Liebeswirren bewegten sich auch die neu in die Inszenierung eingestiegenen Sänger so sicher und überzeugend, als ob sie von Beginn an dazu gehören. Dem guten Ruf, den die israelische Sopranistin Netta Or als Interpretin speziell Alter Musik genießt, wurde sie mit Zunahme des Abends mehr und mehr gerecht, entfaltete ihre sehr individuell schattig timbrierte Stimme vor allem in der Wahnsinnsszene mit ihren Ausbrüchen und dynamischen Wechselbädern, aber auch in der unerbittlichen Rache der Liebhaber-Vernascherin mit wirkungsvoller Emphase. Von einer Einschränkung ihrer Möglichkeiten, die aufgrund einer Ansage durch den Abendspielleiter zu befürchten gewesen wäre, war so gut wie nichts zu hören. Ob ihr das Quäntchen an vokal-gestalterischer Raffinesse, das die Figur der Alcina so magisch erscheinen lässt, vielleicht deshalb abging, oder eben nur im Vergleich zur diesbezüglich faszinierenden Premierensängerin zu vermissen war, ist schwer zu sagen, schmälerte aber keinesfalls ihren Einsatz.

Belebender Nachwuchs

Zum begeistert akklamierten Mittelpunkt der Aufführung mauserte sich die aus dem Opernstudio hervorgegangene Mezzosopranistin Diana Haller. Dem hin- und hergerissenen Ruggiero verleiht sie das jugendliche Feuer, einen jungmännlichen Charme und die warm sämige Prachtstimme, die dieser Part benötigt, um sich neben der Titeldarstellerin behaupten zu können. Dass sie all den immensen Anforderungen zwischen halsbrecherischen Koloraturen und leicht tragenden Legato-Bögen, dem furiosen wie auch dem reflektierenden Aspekt dieser Rolle so vollumfänglich gerecht wurde und allenfalls in einigen kurzen Momenten an die Grenzen ihrer derzeitigen Möglichkeiten geriet, nötigt in Anbetracht ihres jungen Alters größten Respekt ab. Auf ihre „Cenerentola“ am Ende der Spielzeit darf man höchst gespannt sein.

Neben Marina Prudenskaja, die sich als Bradamante trotz ihres bis zu Wagner reichenden Repertoires eine verblüffende Agilität, Leichtigkeit und eine schlanke Führung ihres rundum gleichmäßig durchgebildeten Mezzos erhalten hat, setzte Ana Durlovski als Alcinas Schwester Morgana mit leicht melancholisch eingehülltem Sopran und hochartifizieller atemtechnischer Gestaltung weitere vokal-spielerische Glanzpunkte. Aber auch die fünfte weibliche Stimme des Abends, Sylvia Rena Ziegler, brauchte sich als passend schlaksiger Bub Oberto mit präsentem, beweglichem und ansprechend kultiviertem Mezzo nicht hinter den (großen) Kolleginnen verstecken und ließ damit kaum vermuten, dass sie derzeit noch im Opernstudio ist.

Die beiden wirklichen Männer haben in diesem Stück deutlich das Nachsehen, auch wenn sich Stanley Jackson (Oronte) als schon ein bisschen dem Händel-Idiom entwachsener, klangvoller Tenor und Michael Ebbecke (Melisso) mit für die Barockoper deutlich überdimensioniertem, eher schon an seinen bevorstehenden Scarpia gemahnendem Bariton noch so ausdrucksvoll und spielerisch engagieren.

Am Pult des klein formierten und nach oben in den Mittelpunkt gefahrenen Staatsorchesters Stuttgart waltete Sébastien Rouland mit tänzerisch leichter Hand und modellierte die Vielfalt der Klangfarben so transparent abgestuft heraus, dass die unendliche Arien-Folge in keinem Moment verwässerte.

Wenig Zwischenbeifall zeugte einmal anders von einer Gebanntheit des Publikums, die erst am Schluss durch rauschende Zustimmung gebrochen wurde.

Udo Klebes

 

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