Absurdes Musiktheater in Saarbrücken:
„Die Eroberung von Mexico“ von Wolfgang Rihm (Vorstellung: 13. 5. 2012)
Birgit Beckherrn als Montezuma mit dem Schauspieler Boris Pietsch als Artaud. Foto: Björn Hickmann
Anlässlich des 60. Geburtstags des 1952 in Karlsruhe geborenen Komponisten Wolfgang Rihm führte das Saarländische Staatstheater Saarbrücken in seiner Reihe <echtzeit> seine im Jahr 1992 in Hamburg uraufgeführte Oper „Die Eroberung von Mexico“ auf, die als eine der meistgespielten zeitgenössischen Werke unserer Tage gilt. Rihm, der zu den bedeutendsten deutschen Komponisten seiner Generation gezählt wird, schrieb sein Werk, das er Musiktheater in vier Teilen nannte, auf einen gleichnamigen Dramenentwurf des französischen Surrealisten Antonin Artaud, dessen Text Seraphim-Theater sowie nach Gedichten von Octavio Paz.
Die Handlung des Werks ist in vier Teile gegliedert, die in einem Beitrag des Komponisten im Programmheft abgedruckt ist: I. Die Vorzeichen: Das Stück beginnt mit der „Melodie einer Landschaft, die das Gewitter kommen spürt“. Cortez und Montezuma begegnen sich nicht. – II. Bekenntnis: Die Begegnung, das gegenseitige Vorstellen der Götter, Unverständnis, Gier nach Gold. – III. Die Umwälzungen: Eine langsam eskalierende Konfrontation findet statt. Beide Anführer werden in Frage gestellt. – IV. Die Abdankung: Nicht nur die aztekische Zivilisation und Kultur werden überwunden, sondern auch die spanische. Am Ende erkennen Montezuma und Cortez, dass in ihrem Kampf nur das Gewissen des Todes und des Untergangs liegt.
Das internationale Regieteam, das für die Inszenierung in Saarbrücken verantwortlich war, präsentierte dem Publikum eine witzig-surreale Aufführung, die wie eine konzertante Vorstellung begann, sich zu einem absurden Musiktheater entwickelte und schließlich als Theater der Grausamkeiten endete, womit dem französischen Performance-Künstler, Schauspieler und Schriftsteller Antonin Artaud, der 1935 in Paris sein Theater der Grausamkeit gründete, ein Denkmal gesetzt wurde.
Die russische Regisseurin Inga Levant verteilte – auf Wunsch des Komponisten? – die 47 Instrumentalisten des Saarländischen Staatsorchesters auf mehrere Gruppen im Theater, wodurch ein faszinierender Raumklang im Haus entstand. Ihre Personenführung – es war ein Kommen und Gehen auf der Bühne und im Publikumsraum – brachte eine vermutlich gewollte Hektik ins Theater, die offenbar manchem Zuschauer dazu veranlasste, das Haus vorzeitig zu verlassen. Mitten im Stück flatterten Flugzettel auf die Köpfe des Publikums mit der roten Aufschrift ACHTUNG KUNST! Die Zuschauerinnen und Zuschauer nahmen es mit Humor, der ihnen allerdings im Laufe des Abends noch des Öfteren verging. „Jeder Mensch ist ein Künstler“ lautete eines von vielen Transparenten, die auf der Bühne hergestellt und dann angebracht wurden (Bühnenbild: Roni Toren, Israel). Die Handlung auf der Bühne wurde von Minute zu Minute chaotischer, die erste Reihe entpuppte sich als Tänzer-Riege, die bald ins Geschehen eingriff, sich großteils aus- beziehungsweise umzog (Kostüme: Petra Korink, Niederlande), Orchestermitglieder scheinbar attackierte, sich in wilden Verrenkungen auf dem Boden wälzte, um dann wieder Tanzschritte einzulegen (Choreographie: Rafal Dziemidok, Polen).
Die beiden historischen Einzelgestalten Cortez und Montezuma wurden vom Komponisten stellvertretend für das Männliche und das Weibliche konzipiert. Der Bariton James Bobby als Cortez verkörperte die männliche Sphäre, was der Sänger mit großem körperlichen und stimmlichen Einsatz, der sich oftmals bloß in Lautmalerei ausdrückte, bühnenbeherrschend bewältigte. Die Sopranistin Birgit Beckherrn beeindruckte als „weiblicher“ Montezuma durch grazile, oftmals tänzerische Bewegungen, wobei ihr buntes mexikanisches Gewand einen malerischen Gegensatz zur eintönig wirkenden spanischen Uniform des Cortez abgab. Stimmlich ist die Rolle des Montezuma, die von der Sängerin mit dunklem Timbre wunderbar gestaltet wurde, von Rihm als der „weibliche Klang“ im Werk gedacht, wobei er von einer „Stimm-Skulptur“ spricht.
Neben diesen beiden Protagonisten wirkten noch zwei Sängerinnen mit: Die Sopranistin Nili Riemer, die extrem hohe Töne stemmen musste, und die Altistin Judith Braun, die ihren Part mit sehr tiefer Stimmlage zu singen hatte. Beide hatten damit keinerlei Probleme. Eine besondere Aufgabe hatte der Schauspieler Boris Pietsch, der als Artaud, als Malinche (Cortez‘ Geliebte) und als schreiender Mann gleich drei Rollen zu bewältigen hatte. Zuerst absolvierte er neben dem Dirigenten akrobatische Turnübungen am Geländer, die er mit schlangenartiger Beweglichkeit schaffte, dann hatte er Texte ins Publikum so laut zu schreien, dass man um seine Stimme fürchten musste, danach eine Orgel auf der Empore zu zertrümmern und am Schluss beschmierte er mit weißer, blauer und roter Farbe sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit. Aktionskunst? Jeder Mensch ist ein Künstler?
Das Saarländische Staatsorchester entledigte sich unter der Leitung von Thomas Peuschel der schwierigen Aufgabe, die teils extrem schrillen, teils ungewöhnlich zarten Töne der Partitur des Komponisten wiederzugeben, mit Bravour. Interessant ein Zitat von Rihm zu Gesang und Musik des Werks, das einem Beitrag des Komponisten im Programmheft entnommen ist: „Meine Liebe zu virtuell einstimmiger Musik, zu <polyphoner Monodie> leitete die Suche nach einem nicht allein horizontalen Melos. Jeder Akkord will als Melos ausgesungen sein – und sei er noch so scharf akzentuiert und sekundenbruchteillang. Die Vertikale ist skulpturales Element horizontaler – melodischer – Zeichnung.“
Ein witziger Gag des Dirigenten: Mitten in der Aufführung hängte er ein Schild mit der Aufschrift „Komme bald wieder“ an die Querstange seines Podiums und verließ für einige Minuten den Saal. Das Orchester spielte übrigens weiter…
Der Teil des Publikums, der bis zum Ende der etwa zweistündigen Vorstellung geblieben war, applaudierte den Mitwirkenden enden wollend, wobei es ein paar Bravo-Rufe für die beiden Hauptdarsteller gab.
Udo Pacolt, Wien – München