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PARIS/ Opèra Bastille: CARMEN. Retro-Carmen als braves Kindersonntagsnachmittagsprogramm

17.12.2012 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

PARIS « CARMEN » Opéra National de Paris Bastille 16.12.2012

Retro-Carmen als braves Kindersonntagsnachmittagsprogramm


Nikolai Schukoff, Anna Caterina Antonacci. Foto: Charles Duprat

 Wenn es nur die 167. Repertoireaufführung einer 30 Jahre alten Inszenierung gewesen wäre! Dann nämlich könnte man den Hut ziehen für so viel gediegenes Musizieren, die sehr gute Balance zwischen Orchester und Bühne und durchaus passable Sängerleistungen. Tja, dem ist aber nicht so. In der vierten Aufführung dieser unter einem Unstern gestandenen Neuinszenierung vom 4.12. sieht man – alle Premierenhysterie beiseite – eine 0-8-15 Carmen, die man auch in irgendeinem Steinbruch oder Sommerfestival vom Ural bis Lissabon erleben könnte. Und bei der auch die musikalische Seite mit gesprochenen Dialogen über gutes Mittelmaß nicht hinauskommt. Abgesehen von der sensationellen Micaela der Genia Kühmeier.

 Nichts passt wirklich zusammen. Im Programmheft wird lang und breit Friedrich Nietzsche zitiert und seine Bizet-Leidenschaft als Ergebnis seiner Sehnsucht nach Sonne, Licht und klarem Himmel. Und als bockig-neurotische Gegenposition zu Richard Wagner. In Wahrheit aber wagnert es im Orchestergraben sehr. Philippe Jordan wählt eher breite Tempi, der Klang ist eher kompakt als spritzig-transparent, wenngleich die rhythmische Präzision und die Rücksichtnahme auf die Sänger Jordan noch allemal zu einem der hervorragendsten Operndirigenten der Jetztzeit machen. Die Vorspiele zum 1., 3. und 4. Akt sind exzellent, die Spannungskurven im 1. und 2. Akt fallen jedoch deutlich ab. Es bleibt der Geschmack von süßem Eiswein (an sich auch nicht schlecht), nicht aber von prickelndem Champagner, wie man sich das bei Carmen erwartet. Das liegt natürlich auch an den Sängern und der kein Klischee scheuenden, uninspirierten Regiearbeit des Yves Beaunesne. Letzterer verlegt die Handlung in die Zeit der Movida madrilena (eine Art spanische Kulturrevolution zu Beginn der 80-er Jahre nach dem Tod Francos), in einen verfallenen Grenzbahnhof ohne Dach. Gar keine schlechte Idee! Ein guter Ort für Schmuggler, korrupte Polizisten und zwielichtige Gestalten. Aber warum fällt diesem an sich begabten Theatermann im durchaus brauchbaren fast bühnensprengenden Einheitsbühnenbild über 4 Akte (Damien Caille-Perret) und den buntscheckigen Folklorekostümen (Jean-Daniel Vuillermoz) nichts ein, außer vor erstarrten Chor- und Statisteriemassen desinfiziertes, nichts sagendes Rampentheater zu produzieren? Die Solisten singen und agieren oft wie vor einer voyeuristischen Menschenmauer, die sich um einen Umfall schart. Und bewegen sich dementsprechend schwerfällig und wie dressierte Zirkustiere in einer Arena, wo der Tod lauern sollte.


Nikolai Schukoff, Genia Kühmeier. Foto: Charles Duprat

 Dazu kommt das Pech, dass die Produktion außer der erwähnten derzeit weltweit nicht zu überbietenden Genia Kühmeier und auch noch dem männlich markanten Ludovic Tézier (Escamillo) eben über keine „Rampensäue“ verfügt, die sich frei nach Zerbinetta „in jede Situation fügen.“ Die Carmen der Anna Caterina Antonacci als auch der José des Grazers Nikolai Schukoff sind über weite Strecken hilflos in der Weite des Raums ihrem Schicksal überlassen. So nüchtern muss man die Sache nicht angehen. Dazu kommt, dass beide mit ihren interessanten qualitätsvollen Stimmen das große Haus nicht ganz füllen können. Wer abgesehen davon die auch in Paris wunderschön singende Antonacci in London in der Regie von Francesca Zambello unter Pappano mit Jonas Kaufmann gesehen hat, fragt sich, wo die Leidenschaften und Abgründe dieser unberechenbaren kurzlebigen freiheitsliebenden Raubkatze Carmen geblieben sind? Antonacci tritt als wasserstoffblonde, in schwarz gekleidetes Sternchen einer spanischen tele-novela (TV Soap Opera) auf und bleibt diesem Klischeestempel verhaftet. Die erotischen Versuche an Don José bleiben klinisch. Auch bei Schukoff hat man das Gefühl, er hat diese Carmen nie so richtig geliebt, und zum Schluss auch nicht richtig gehasst, den Leidenschaftsmord durch Erwürgen mit dem vergilbten Brautkleid seiner Mutter (?) nimmt ihm keiner ab. Als Zuseher könnte man auch vermuten, die Chemie zwischen den beiden Sängern stimmt nicht. Und hat das Nachsehen. Das Schukoff anders kann, erahnt man nur in der Auseinandersetzung im 3. Akt mit Escamillo. Der einzige spannungsgeladene Theater-Moment der Aufführung. Rein stimmlich ist Nikolai Schukoff, über den ich eines Tages gerne schreiben würde, er ist die österreichische Antwort auf Jonas Kaufmann, nämlich ein ganz großes Versprechen! Begabt mit einer unglaublich sicheren und silbern glänzenden Höhe, mit einer unverwechselbaren warm-timbrierten, allerdings etwas fragilen und zeitweise unruhigen Mittellage, bringt er für viele Rollen im lyrischen und Zwischenfach unbezahlbare Atouts mit. Ein Stimmtyp à la junger Neil Shicoff, aber (noch) ohne dessen rauschhaftes Glühen und Gabe zur absoluten Rollenidentifikation. Vielleicht kommt der José auch ganz einfach noch zu früh, abgesehen dass die frz. Diktion (mit starkem öst. Akzent) zu wünschen übrig lässt und das Timbre eher ins deutsche Fach passt. Das Met-Debut als José steht ja unmittelbar bevor, hoffentlich hilft ihm dort ein passender Regisseur, wirklich zu 100% in die Rolle schlüpfen zu können. Speziell im Schlussduett im 4. Akt. Das ist ja wirklich eine der großen Gelegenheiten, „Theaterblut spritzen lassen zu können.“ Und was fällt Regisseur Beaunesne dazu ein: Carmen und José stehen an der Rampe nebeneinander im Abstand von zwei Metern und singen ins Publikum. Dann zieht José Carmen ein altes Hochzeitskleid aus einem Koffer und Carmen an (die sich das wirklich gefallen lässt!) und erwürgt sie schlussendlich damit. Oje!

 Um nicht falsch verstanden zu werden, die neue Pariser Carmen ist vor allem musikalisch keine schlechte Aufführung. Dafür sorgen auch die – wie an der Opéra de Paris durchaus üblich – erstklassig besetzten kleineren Rollen: Olivia Doray als Frasquita und Louise Callinan als Mercedes, Edwin Crossley-Mercer als Le Dancaire, Francois Piolino (Le Remendado), Francois Lis (Zuniga), Alexandre Duhamel (Morales), Philippe Faure (Lillas Pastia) und Frederic Cuif machen ihrer Zunft alle Ehre. Der Chor (Einstudierung Patrick Marie-Aubert) agiert routiniert präzise. Das Orchester der Oper sorgt abgesehen von den eingangs erwähnten Einschränkungen unter Maestro Jordan für einen luxuriösen Klangteppich. Dennoch ist diese Carmen keine Reise nach Paris wert.

 Ingobert Waltenberger

 

 

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