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PARIS/ Bouffes du Nord: „LE BOURGEOIS GENTILHOMME"

03.07.2012 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

Paris Bouffes du Nord „LE BOURGEOIS GENTILHOMME“ 3.7.2012

Kostümentwurf Christian Lacroix für M. Jourdain 

Foto : Loll Willems

Denis Podalydés gelingt mit der genialen Comédie-Ballet „Der Bürger als Edelmann“ von Molière auf die Musik von Jean-Baptiste Lully ein echter Theatercoup von drei Stunden guter Laune! Musik, Tanz und Drama in phantasievollen Kostümen keines Geringeren als Christian Lacroix vermählen sich zu einer gar köstlichen Farce. Ein saftiger Braten wird da (von) allen Beteiligten serviert, von dem man aufpassen muss, den Mund nicht zu voll zu bekommen, so sehr hindern die überbeschäftigten Lachmuskeln eine ruhige Verdauung.

Auch bei den diesjährigen Salzburger Festspielen gibt es ja Ariadne auf Naxos von Richard Strauss in Kombination mit der Hofmannsthalschen Fassung des Bürgers als Edelmann statt des üblichen Vorspiels. Wer jedoch wissen will, wie urkomisch bis ausgelassen grotesk diese gesellschaftliche Satire wirklich ist, wird sich aber nach Frankreich aufmachen müssen, wo die wohl beste Produktion seit Menschengedenken bis Ende 2012 auf
Tournée ist (Tourneedaten siehe unten).

Das Duo Molière/Lully hat 1660 bis 1670 schon etwa 10 gemeinsame Arbeiten zur Zufriedenheit des Sonnenkönigs geschaffen. Zur letzten Zusammenarbeit kann es so: Im Jahr vor der Uraufführung 1670 hat Ludwig XIV. in Versailles den türkischen Gesandten Soliman-Aga empfangen. Der König saß auf dem Thron, und seine Kleidung war mit Brillanten großen Werts geschmückt. Der erfahrene Diplomat Soliman-Aga verblüffte den französischen Hof indem er vortäuschte, als trüge in der Türkei jedermann Brillanten auf seiner Kleidung. Diese despektierliche Anmaßung missfiel dem König, der dem Komponisten und Dramatiker den Auftrag gab, unbedingt eine närrische Szene mit Türken in ihr neues Stück aufzunehmen.
Molière entsprach diesem Wunsch seines Königs so: Damit Lucile (Leslie Menu) ihren bürgerlichen Cléonte (Thibault Vinçon) heiraten darf,
bedarf es einer Intrige. Deren Vater M. Jourdain organisiert „zufällig“ ein Dîner, um seine verehrte Marquise Dorimène (Bénédicte Guilbert) zu beeindrucken. Jourdain ist schon angetrunken, und bevor ihnen die Angelegenheit entgleitet, verlassen Dorimène und ihr betrügerischer Adeliger Dorante (Julien Campani) die Veranstaltung. Cleonte und sein Diener Corvielle (Alexandre Steiger) bereiten in ihrer Verkleidung als Osmanen eine Zeremonie vor, in der Jourdain zum Mamamuschi (Paladin) ernannt werden soll. In dieser erlauchten Position, so reden sie ihm ein, kann er die Trauung vornehmen. Die große türkische Zeremonie beginnt und schließlich verheiratet Jourdain Lucile mit Cléonte.

Auf der Szene des unvorstellbar herabgekommenen Theaters Bouffes du Nord, das seit seiner Wiedereröffnung 1974 lange Jahre Wirkungsstätte des berühmten Peter Brook war, ist eine bescheidene Holzfassade eines Tuchhändlers aufgebaut. Dieses Bühnenbild von Éric Ruf erinnert sofort an den Beruf der Familie des tollpatschigen Möchtegernadeligen Jourdain, der von seiner Frau (hinreißend Isabelle Candelier) wegen seiner naiven Anmaßungen die schlimmsten Spötteleien zu ertragen hat. Zu Beginn des Stücks treffen einander eben dieser M. Jourdain mit einer Abordnung von Künstlern, Sängern (Romain Champion Tenor, Cécile Granger Sopran, Marc Labonnette Bariton), Instrumentalisten (Ensemble Baroque de Limoges), Tänzern (Artemis Stavridi und Jennifer Macavinta), einem Fechtmeister (Manuel Le Lièvre) und einem Philosophen (Francis Leplay) einander auf der leeren Bühne. Es geht um eine bestellte Serenade und wohl auch um das Primat der Künste, wobei der nichtadelige Mäzen schon mal einschläft bei so viel gepflegter Kunst und Gelehrsamkeit. Sein Urteilsvermögen liegt wohl eher in der Brieftasche wie in kulturellem Verständnis. Dieser eitle, kapriziöse Monsieur Jourdain wird von Pascal Rénéric so gespielt, wie man sich Molière selbst anlässlich der Uraufführung auf Schloss Chambord auf der Bühne vorgestellt haben mag. Bei aller satirischen Zuspitzung bleibt dieser Jourdain ein sympathischer Kerl trotz oder gerade wegen seiner Spintisiererei, guten Laune und mehr als naiven Tollpatschigkeit. Dem Publikum die Hände schüttelnd und immer wieder Zuspruch heischend für seine verrücktesten Aktionen, wird es unfreiwillig zum Komplizen des närrischen Phantasten. Schlussendlich gelingt es M. Jourdain durch sein lebensvolles und –bejahendes, zwar unglaublich parvenuhaftes, aber doch zutiefst menschliches Agieren alle Widersprüche in einer komödiantischen Apotheose aufzulösen. Schauspiel, Tanz und Musik verbinden sich zur Gesellschaftsfarce, zu einem schräg-drolligen Lobgesang des Lebens.

Den singen Podalydés und Rénéric mit einem exzellenten Ensemble an jungen Schauspielern, Sängern und Tänzern, von denen die meisten in mehreren Rollen auftreten. In diesem Gesamtkunstwerk ist die vortreffliche japanische Choreographin Kaori Ito für die amüsanten Tanzszenen zuständig. Anleihen aus dem barocken Bewegungskanon verbindet sie mit zeitgenössischer tänzerischer Freiheit zu einer die andern Künste durchdringenden und beflügelnden Einheit. Im 3. Akt inszeniert sie ein wunderbares corps à corps zwischen den zwei Liebespaaren Cléonte und Lucile und Covielle und Nicole (Manon Combes).
Diese vier Personen umarmen einander und stoßen sich in einem unendlichen Reigen immer wieder ab, sich ineinander verstrickend und sich wieder lösend. Welche herrliche Bewegungs-Parabel für erotische Abhängigkeit, unaussprechliche Sehnsucht und Unmöglichkeit, die eigene Befindlichkeit dem anderen mitzuteilen.


Pascal Rénéric als M. Jourdain. Foto : Loll Willems

Die musikalische Umsetzung der Partitur Lullys liegt in den bewährten Händen des Christophe Coin. Mehr dem dramaturgischen Gebrauch dienend und schon von den Proportionen her keine dem Drama gleichwertige Schwester, ist die Musik Lullys dennoch witziger Stichwortgeber und eingespielter Dialogpartner zu den Pointen und Wortspielen des Molière. Die fünf hervorragenden Solisten des EnsembleBaroque de Limoges (Maria Teclandreotti Flöte, Lola Soulier Oboe, Louis Creach und Nicolas Mazzoleni Violinen, Christophe Coin Cello und Olivier Fortin Cembalo) bilden so einen unverzichtbaren Teil des bunten Spektakels.

Man kann dieser gelungenen Produktion des Denis Podalydès nur dasselbe Schicksal wünschen wie einst seinem Cyrano de Bergerac, der 2007 mit sechs „Molières“ ausgezeichnet wurde. Der Publikumserfolg würde es rechtfertigen. So gut wie alle Vorstellungen in Paris sind schon ausverkauft.

 Dr. Ingobert Waltenberger

 Tournéekalender:

Paris, Theater
Bouffes du Nord, 19. Juni bis 21. Juli ; Sainte-Maxime l3. Oktober ; Arcachon 16. und 17. Oktober ; Amiens 23. bis 25. Oktober ; Versailles 19. bis 21. November; Vichys 24. und 25. November; Massy 1. und 2. Dezember; Châteauvallon 6. bis 9. Dezember; Caen 11. bis 15. Dezember und Limoges 18. und 19. Dezember.

 

 

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