
Ana DURLOFSKI in der Titelpartie Foto(K)Werner Kmetitsch
Zwischen Wahrheit und Wahnsinn
LUCIA DI LAMMERMOORE in der Grazer Oper konfrontiert das Publikum mit neuen Sichtweisen
Ein deutliches Buh-Konzert als Antwort auf ein ungewohntes Regiekonzept
Samstag, 23. März 2019 Premiere Von Peter SKOREPA
Auf Grund der psychischen Probleme, in welche die Titelfigur wegen der über sie hereinbrechenden Ereignisse fällt (Der gefälschte Brief, die vermeintliche Untreue ihres Verlobten, die aufgezwungene Heirat mit Arturo) wird Lucia eine Hysterie-Patientin in der Pariser Salpetrière bei dem berühmten Jean-Martin Charcot. Der ist also gleichzeitig der leitende der Arzt der Klinik und als Opernfigur der intrigierende Bruder Enrico Ashton. Dessen berühmtes „Anatomische Theater“, ein hölzernes amphietheatralisches Halbrund, einst um 1890 herum als Einbau in diesem Spital, ergibt als Einheitsbühnenbild die ideale Handlungsebene für alles Nachfolgende: Die Behandlung der „Hysterikerinnen“, Nacktwäsche inclusive, Vorführung diverser Heilmethoden der Zeit, wie sie damals von Charcot öffentlich gezeigt wurden, etwa die Hypnose.
Intrigiert und geheiratet wird ebenfalls in diesem Halbrund und erst recht gemordet. Während die Turmszene auf der Höhe des Anatomischen Theaters abläuft, ist unter dem Halbrund auch die eheliche Erstbegegnung Lord Arturs Bucklaws mit seiner frisch Angetrauten zu sehen, deren Entkleidung ihre blutige Unterwäsche enthüllt: Folge einer an der geplagten Frau zuvor vorgenommenen Curetage gynécologique durch deren Bruder, um dieses Liebesandenken an Edgardo und Ehehindernis mit dem Geldsack Bucklaw zu beseitigen.
Kurz, der Lord versucht jetzt entsetzt dem Anblick so vielen Blutes zu entfliehen, Raimondo, der Hauskaplan vollendet das Werk mit einem Art Ehrenmord: Er erdolcht den fliehenden Arturo und drückt das blutige Messer der schon halb von Sinnen agierenden Lucia in die Hand. Zuletzt wird die tote Lucia auf einem Operationstisch aufgebahrt, Enrico setzt mit seinem Revolver seinem Leben ein Ende.
Diese Geschehnisse des medizinischen Rahmens verzahnen sich mit der Kernhandlung von Donizettis Oper durchaus geschickt, die Personenführung auch des dafür als bekannt geeigneten Chors und der Statisterie der Oper Graz sorgen wieder für interessante Bilder und letztlich trägt die Darstellung von Besuchern und Insassen einer “Irrenanstalt“ in dankbarer Weise dazu immer bei, man denke nur an das „De Sade“-Drama von Peter Weiss. Allerdings fand gerade die Deutlichkeit der Darstellung, offenbar vor allem der blutgetränkten Wäsche, die einem Spektakel von Hermann Nitsch alle Ehre gemacht hätte, keinen großen Anklang beim Grazer Publikum: Ein hörenswerter Buh-Orkan empfing dafür am Schluss Verena Stoiber, die für die Regie und Sophia Schneider, die für Bühne und Kostüme verantwortlich war. Überraschend eigentlich diese Deutlichkeit der Ablehnung, wenn man bedenkt, was die Grazer schon alles an verrückten Inszenierungen durchgejubelt haben. Welchen Nerv hat da die Regie getroffen? Die Betroffenheit, im Theater nicht so leicht wegschauen zu können? Betroffenheit über die Ungeheuerlichkeiten, die tatsächlich hinter der Belcanto-Seligkeit in einem Opernstoff verborgen liegen? Zwischen „Augen zu und durch“ und „Ekelig“ lagen viele Kommentare, die nach der Vorstellung zu hören waren!
Den Nerv dieses Wahnsinns, welcher Lucia umfangen hält auszuloten, das schafft die gebürtige Mazedonierin Ana Durlovsky darstellend und singend mit packender Intensität. Sie versteht es, die nicht allzu große Stimme auf einen zarten, manchmal wie ersterbenden Ton zurückzunehmen, beinahe schon wie zaghaft einzusetzen, den ungemein schlanken Sopran auch zu zarter Koloratur zu reduzieren und damit ihrer verschwindenden Existenz Ausdruck zu verleihen. Zusammen mit der Begleitung durch eine (echte) Glasharmonika, die von Christa Schönfeldinger bespielt wurde, erfüllte eine, den ganzen Seelenschmerz Lucias vermittelnde Klangkombination den Saal während der Wahnsinnsszene.
Pavel Petrov ist der neue Tenorliebling der Grazer, 2018 gewann er die beiden ersten Preise bei der Operalia, und er gewann auch an diesem Abend als Edgardo das Publikum für sich mit seinem schön geführten und italienisch geschulten Material, dem vielleicht der letzte Schliff und der besonderere Schmelz (noch) fehlen. Aus Moskau stammt der Bariton Rodion Pogossov, als Enrico, jeder Zoll ein arroganter Chefarzt, während der polnische Tenor Albert Memeti als Lord Arturo einen köstlichen und schusseligen Dandy auf die Bühne stellt, ehe er unter dem Dolch von Raimondo, dem Hauskaplan verröchelt. Letzterem, dargestellt von Alexey Birkus wäre mehr Tiefenregister zu wünschen.
Mareike Jankowski als Alisa und Martin Fournier ergänzten zufrieden stellend das Spitalpersonal.
Andrea Sanguineti war die musikalische Leitung übertragen: Durch seine etwas unstete Agogik brachte er vor allem in der Turmszene – was bei dieser auch den Sichtverhältnissen geschuldet war – aber auch beim Chor – nicht immer die gewünschte Korrelation zustande.
Wie schon erwähnt traf der Buh-Orkan am Ende das Regie- bzw. Ausstattungsteam, ansonsten großer Jubel für die Darsteller im rund zwölfminütigen Schlussapplaus.
Fazit: Wer auf der Bühne kein Blut sehen kann und kein Irrenhaus und keine Kranken, sollte diese Inszenierung meiden. Für Freunde interessanter Regiearbeit allerdings empfehlenswert, und es bleibt auch genügend Belcanto übrig.
Peter SKOREPA
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