Fotos: Lalo Jodlbauer
NÖ / Festspiele Reichenau:
DER JÜNGSTE TAG von Ödön von Horvath
Premiere: 7. Juli 2024,
besucht wurde die Generalprobe am 6. Juli 2024
Hier kocht die Chefin
Reichenau-Intendantin Maria Happel hat sich diesmal keine Rolle in den vier Hauptstücken dieses Sommers zugeteilt (zumindest als Madame Palpiti hätte man sie gerne gesehen), aber sie inszeniert einen Horvath, zu dem sie spürbar eine besondere Beziehung hat (die jugendliche Hauptrolle der Anna hat sie einst selbst gespielt). „Der jüngste Tag“ von 1937, das letzte Werk, das der Autor vor seinem tragischen Tod geschrieben hat, ist eher untypisch für ihn. Hier gibt es nicht die bekannte Horvath’sche politische Zwischenkriegs-Zeitkritik als vielmehr eine äußerlich an Kolportage erinnernde Geschichte im stickigen Kleinstadt-Milieu. Mann in den besten Jahren lässt sich von jungem Mädchen eine Sekunde lang den Kopf verdrehen, vergißt dabei seine Pflicht, ein Signal zu stellen und löst damit eine Eisenbahn-Katastrophe mit 18 Toten aus. Wenn es dann um die Gewissensqualen geht, weicht Horvath von der Realität in die Phantasie ab und lässt auch Tote erscheinen… keine leichte Aufgabe.
Maria Happel löst sie im „Neuen Spielraum“, der anspruchsvollen Raumbühne, souverän, benötigt nicht mehr als Tisch, Sessel, Bank (Bühne: Alexandra Burgstaller, stimmige Kostüme: Erika Navas) – und Schauspieler, die voll in ihren Figuren stehen. Dann öffnet sich das Dorfleben, dann ist da ein stets von allen beobachteter, mißgünstig beklatschter Alltag des „Herrn Stationsvorstand“ und (wie man nie müde wird zu betonen) seiner um 13 Jahre älteren Frau. Da ist der Wirt, der nach seiner Kellnerin greift und auf die hübsche Tochter Anna stolz ist, die sich so richtig mit einem Fleischergesellen verlobt hat. Da sind Männer, die ihrer Aggression freien Lauf lassen und ausgrenzen, wen sie nicht mögen – die Gattin von Hudetz und deren Bruder, der es schwer hat, sich in der Gemeinschaft zu behaupten, auf die er als Geschäftsmann angewiesen ist… Ein rundes Bild, ganz ohne spekulative Überzeichnung entfaltet.
Selbst wenn Horvath nie klärt, wie genau es zu dem Mord an Anna kam (Hudetz erinnert sich nicht an seine Tat) und wenn dann mit der „noch größeren Schuld, die es zu sühnen gilt“, pure Melodramatik ausbricht, wird das mit größter Selbstverständlichkeit realisiert – und die Geister der Toten, denen letztendlich doch Hudetz das Leben genommen hat,, erscheinen ohne weiteren SchnickSchnack erstaunlich überzeugend. Grünes Licht, ein zerbrochener Eisenbahnteil als Luftballon, und alles ist klar…
Daniel Jesch ist ideal für den aufrechten, unter dem gesellschaftlichen Druck seiner Umgebung stehenden Mann, der anfangs nicht die Schuld für das auf sich nehmen will, was er in seinen Augen eigentlich nicht verschuldet hat. Johanna Mahaffy, die sich in nur einer Saison an der Josefstadt zu einer unübersehbaren Größe unter den jungen Schauspielerinnen entwickelt hat, bekommt den jugendlichen, frechen Mutwillen des Mädchens Anna und die anschließende Zerfressenheit durch Schuld überzeugend in den Griff.
Perfekt die Nebenrollen, wenn Mercedes Echerer die seelisch zerstörte Frau Hudetz möglicherweise gelegentlich geringfügig übertreibt, während Nicolaus Hagg als ihr von vielen Gefühlen (Loyalität, Anstand, Pragmatismus) getriebener Bruder eine stille Meisterleistung liefert.
Was Nebenrollen leisten können, zeigen Wolfgang Hübsch als Staatsanwalt und vor allem Dunja Sowinetz, deren „Dorftatschen“ so besonders überzeugt, weil sie nicht eine Sekunde lang übertreibt.
Kaspar Simonischek (ein Riesenlackl wie einst sein Vater) als sentimentaler Fleischhauer-Bräutigam, Alexander Rossi als rühriger Wirt, Karin Kofler als seine Kellnerin, die natürlich auch alles mitbekommt, was da geschieht, und Rafael Schuchter, Rainer Friedrichsen und Philipp Stix in zahlreichen Männerrollen ergänzen perfekt.
Möglicherweise wird dieses tragische Stück das Nobelpublikum von Reichenau am wenigsten reizen. Es sei aber gesagt, dass es sich dabei um die beste Aufführung dieses Sommers handelt…
Renate Wagner