Theater Münster The Rake’s Progress. Premiere am 10. Mai 2014
Neoklassizistische Parabel vom bestraften Leichtsinn
Foto: Oliver Berg
Die Intendanz von Dr. Ulrich Peters am Theater Münster bot betreffend Musiktheater bisher viel Abwechslung, besonders auch durch Raritäten wie „Neues vom Tage“ von Hindemith oder „Benvenuto Cellini“ von Berlioz. Hierfür muß der Opernfan sehr dankbar sein! Dr. Peters selbst hat bisher lediglich das „Weisse Rössl“ inszeniert – keine so bedeutende Aufgabe. Die kam allerdings jetzt und zum ersten Mal in Zusammenarbeit mit GMD Fabrizio Ventura. Ausgesucht haben sie – für Bühne anspruchsvoll und delikat für das Orchester – Igor Strawinskys Oper „The Rake`s Progress“ – „Die Laufbahn eines Wüstlings“ auf das Libretto von W. H. Auden und C. Kallman angeregt durch eine Folge von Kupferstichen des englischen Malers William Hogarth aus dem 18. Jahrhundert. Inhaltlich kann man vom fortschreitenden Niedergang eines Leichtsinnigen sprechen, nämlich dem Schicksal von Tom Rakewell, der Anne Trulove (nomen est omen) liebt und von ihr uneigennützig wiedergeliebt wird. Trotzdem will er frei sein von jeglicher gesellschaftlicher Bindung und glaubt so recht einfach glücklich zu werden Dazu hilft eine angebliche reiche Erbschaft verkündet von Nick Shadow, einer Art Mephisto oder Stelzfuß, wie er im kürzlich aufgeführten „Black Rider“ genannt wurde. Er folgt gern dessen Einflüsterungen, sucht in der Großstadt London Lust in einem Bordell, heiratet dann die türkische Jahrmarkts-Attraktion Baba, verliert sein Vermögen mit einer angeblichen Erfindung, die Menschheit rettend aus Steinen Brot machen zu können, entgeht dank Annes Liebe bei einem Kartenspiel mit Nick Shadow dem Tod, und endet immer noch Anne liebend im Irrenhaus.
Diese Parabel erzählte die Regie von Ulrich Peters bis in kleine Details hinein mit meisterhafter Personenführung ohne überflüssige Zutaten. Die häufig notwendigen schnellen Ortswechsel – Strawinsky läßt die Szenen attacca eine der anderen folgen – ermöglichte das Einheitsbühnenbild von Christian Floeren durch eine drehbare Rückwand. Auf diese wurden dem Schauplatz entsprechend projiziert das später kippende Haus der Truloves, ein Mond für die Herbstnacht, Tränen oder Regen in London, Spinnweben für das staubige Zimmer, Zahlenkolonnen für die Versteigerung, ein riesiges Kreuz und Spielkarten für die Friedhofsszene. Großartig war z.B. der Einfall, analog zum „Faust“ Abneigung zwischen Anne und Nick zu zeigen oder in der Irrenhausszene den Chor wie im Hades zuerst als Schatten auftreten zu lassen. Die den Figuren von Hogarth nachempfundenen Kostüme von Kristopher Kempf entsprachen dem Hinweis auf dem halb schwarzen halb weissen Vorhang zu Beginn, die Handlung könne zu jeder Zeit spielen.
Die neoklassizistische Musik erfordert von den Sängern Textverständlichkeit – hier englisch – in den Rezitativen sowie lyrisches Legato und bewegliche Koloraturen im Sinne des 18. Jahrhunderts bei den Arien. Über die beiden letzteren Fähigkeiten verfügte Youn-Seong Shim als Tom Rakewell mit seinem helltimbrierten Tenor besonders im oberen Stimmbereich eindrucksvoll. Seine traurige Cavatine, mit der er sich im Bordell an seine geliebte Anne erinnert, gelang bewunderungswürdig, noch mehr auch intensiv gespielt der lyrische Schluß im Irrenhaus mit wilden Koloraturen kurz vor seinem Tod.
Auch Henrike Jacob als Anne Trulove beeindruckte nicht textlich aber gesanglich sehr. Ihre der Tradition des 18. Jahrhunderts nachempfundene Arie – zuerst lyrisch-langsam „Ruhige Nacht“, dann in der schnellen „Cabaletta“ „Ich gehe hin zu ihm“ koloraturenreich von der tiefen Lage bis zu hohen Spitzentönen – regte das Publikum mit Recht zu Szenenapplaus an. Ganz innig sang sie zum Schluß das Schlummerlied (Lullaby) mit Chor auf den sterbenden Tom.
Foto: Oliver Berg
Perfekt in Spiel, Sprache und Gesang gelang Gregor Dalal die Darstellung des teuflischen Nick Shadow. Ohne stimmliche Anstrengung hörte man ihn über das Orchester hinweg. Zynisch klang seine Stimme, wenn er sich mitten in der Handlung an das Publikum wandte, dämonisch gegenüber Tom und sehr exakt in den Koloraturen. Zur Durchführung seiner teuflischen Pläne hatte die Regie ihm drei blonde schwarzgekleidete Damen (Zauberflöte??) als Helferinnen zur Seite gestellt.
Lisa Wedekind ist von Natur aus hochgewachsen, für die Rolle der Baba (Türkenbab) hatte man sie mit hohen Schuhen und hoher Frisur noch grösser gemacht, wodurch sie dann hüftenschwingend neben dem kleineren Tom elegant aber nicht monströs wirkte. Weitgehend textverständlich war sie sogar beim atemlosen Geplapper der Aufzählung früherer Bewunderer, sang und mimte danach erfolgreich grosse Oper parodierend Verzweiflung auch mit Zertrümmern von Geschirr. Die publikumswirksame Rolle des Auktionators Sellem war dem sehr textverständlich singenden Philippe Clark Hall anvertraut. Seine Arie, teils im Walzertakt, mit der er Gebote erbittet, gelang schwungvoll und mitreissend. Wie immer machte Suzanne McLeod aus der kleinen Rolle der „Puffmutter“ ein Kabinettstückchen, etwa als sie die Huren mit majestätischer Geste von Tom wegdrängte mit der Begründung, in dieser Nacht nehme sie ihr „älteres“ Recht wahr, und dies auch gleich angedeutet in die Tat umsetzte. Plamen Hidjov war die Partie des Vaters Trulove anvertraut.
Mit dem nötigen Drive in der Bordellszene und punktgenau bei der schwierigen Versteigerungsszene sangen Opernchor und Extrachor in der Einstudierung von Inna Batyuk.
Wie schon früher kam der musikalische Höhepunkt aus dem in der Tradition etwa Mozarts hochgefahrenen Orchestergraben. Alle melodischen und rhythmischen Feinheiten gleich beginnend mit der Eingangsfanfare brachte das Sinfonieorchester Münster unter der Leitung von Fabrizio Ventura zur Geltung, der auch erfolgreich für den Kontakt zur Bühne sorgte. Auch wenn man nicht alle Anklänge an frühere Komponisten vom Barock über vor allem Mozart bis zu Strawinskys eigenen Werken sofort erkennt, verstärkte die Musik doch auch eindrucksvoll die Handlung, vor allem durch viele ausdrucksvoll gespielten Soli einzelner Instrumente, besonders der Bläser, aber auch etwa der tiefen Streicher in der Friedhofsszene. In dieser hatte auch Elda Laro am Cembalo rechts auf der Bühne platziert ihre grosse Szene. Begleitete sie sonst „nur“ die Rezitative, so spielte sie solo beim Kartenspiel von Tom und Nick.. Da es hier um Leben und Tod geht, wirkte der silbrige Klang ihres virtuosen Cembalospiels spielerisch unheimlich, deshalb war sie wohl auch kostümiert wie Shadows Gehilfinnen.
Nach der von allen Sängern zum Publikum gesungenen Schlußmoritat, sinngemäß, daß die Faulen der Teufel holt, gab es langen intensiven Beifall, für die Sänger, vor allem das Orchester, und das Leitungsteam mit Bravos und – wenn es denn sein mußte – rhythmischem Klatschen. Auch diese gelungene Aufführung sollte ein Hit des Theaters Münster werden.
Sigi Brockmann 12. Mai 2014