MEININGEN: IVAN IV. von GEORGES BIZET – deutsche szenische Erstaufführung
24.2.2023 (Werner Häußner)
Mercedes Ascuri, Tomasz Wija. Foto: Iberl
Musikgeschichte kann so ungerecht sein. Da beginnt vermutlich 1862 ein 23jähriger hochbegabter Komponist eine große fünfaktige Oper zu schreiben, die liegenbleibt, weil die eine Pariser Bühne Bankrott geht und die andere kein Interesse hat. Da taucht 67 Jahre später das verschollen geglaubte Manuskript in einem Nachlass auf. Dann dauert es weitere 94 Jahre, bis es zu einer ersten szenischen Produktion in Deutschland kommt. Diese Pioniertat findet nicht etwa an einem großen Haus mit üppigen Kapazitäten statt, sondern am Staatstheater Meiningen – nicht eines der kleinsten unter den deutschen Opernhäusern, aber eben auch nicht mit abundanten Mitteln gesegnet. Und die Aufführung zeigt: Die bisher kaum bekannte Oper, Ivan IV. von Georges Bizet, ist aller Mühe wert.
So fragt man sich ein weiteres Mal: Wie kann ein Werk eines Komponisten, dem auf ein zweifelhaftes Libretto die wundervolle Musik der „Pêcheurs de Perles“ eingefallen und der mit „Carmen“ einen tief fundamentierten Pfeiler des internationalen Repertoires errichtet hat, wie kann also eine Oper von Bizet einfach so gut wie unbeachtet bleiben? Sicher, es gab die notorischen „Rettungs“versuche: Eine Fassung mit erheblichen Eingriffen und einer Reduktion auf vier Akte von Henri Büsser wird 1951 in Bordeaux und anschließend sogar in Bern und Köln gespielt. 1961 entsteht eine Radioproduktion. Doch eine Resonanz in der Theaterwelt bleibt aus.
1975 kehrt der Dirigent Howard Williams zur originalen fünfaktigen Fassung zurück und komponiert die beiden letzten Szenen aus, von denen Bizet nur die Gesangsstimmen notiert hatte. In England finden ein paar konzertante Aufführungen statt; 2002 entsteht eine CD-Aufnahme auf der Basis einer konzertanten Produktion am Théâtre des Champs-Élysées. Das Echo ist gleich Null. Erst 2020 will Jens Neundorff von Enzberg zur Eröffnung seiner Meininger Intendanz Bizets vernachlässigtes Werk als szenische Uraufführung geben. Daraus wird dank Corona nichts. Und dann schnappt die Kammeroper St. Petersburg Meiningen die Meriten weg und platziert im Dezember 2022 zum ersten Mal eine szenische Produktion, die freilich unter Ausschluss der westlichen Öffentlichkeit über die Bühne geht.
Meiningen bietet somit die erste Gelegenheit, Bizets „Ivan IV.“ ohne Einschränkungen zu erleben. Und die dreieinhalb Stunden lohnen sich. Schon die Eröffnung lässt aufhorchen: Wie Bizet eine einsame Cellomelodie in Klarinette und Flöte übergehen lässt, wie er in wenigen Takten eine pastorale Atmosphäre zaubert, hat die Klasse, die man aus seinen anderen Werken kennt. Nach einem gezielt plakativen Marsch im Übergang zum zweiten Akt (aus Bizets „La jolie fille de Perth“) verfolgt man die musikalische Charakterisierung Ivans mit wachsender Spannung.
Die Handlung des Librettos von François-Hippolyte Leroy und Henri Trianon bezieht sich zwar nur grob auf die tatsächlichen Vorgänge um den ersten russischen Zaren Ivan „der Schreckliche“ (besser übersetzt wäre „der Drohende“, ein Ausdruck düsterer Größe), zeichnet aber die historisch belegten Züge des wohl manisch-depressiven Herrschers psychologisch überzeugend nach: Ivan (1530-1584) wuchs als Vollwaise auf, wurde von den Bojaren erniedrigt und gequält und begann mit 13 Jahren grausam zurückzuschlagen. Seine Herrschaft ist geprägt von kriegerischer territorialer Expansion, mit grausamen Maßnahmen durchgesetzter Sicherung der inneren Stabilität, dem traumatisierenden Giftmord an seiner geliebten ersten Frau und einer zunehmenden psychischen Labilität, die offenbar zu Verfolgungswahn und sprunghaften Wechseln zwischen depressiven Phasen und politischem Aktionismus führte.
In der Musik hört man diese inneren Zerreißproben, gekleidet in berückende, wenn auch nicht „nachsingbare“ Melodik, die an Charles Gounod, Giacomo Meyerbeer und Bizets parallel zur Arbeit an „Ivan IV.“ entstandene „Perlenfischer“ erinnert. Beispiele sind die süffig weiten Phrasen, die Bizet der jungen Tscherkessin Marie schreibt, die im ersten Akt von russischen Soldaten entführt wird, im zweiten die vom Zaren gewünschte Ehe ablehnt und im vierten, zur Liebenden gewandelt, sich als treue Gefährtin Ivans gegen die Mordpläne ihrer eigenen Verwandten stellt. Ihr Arioso im zweiten Akt führt zu einem grandiosen Finale, ein „gran pezzo concertato“ mit instrumentalem Pomp und Orgelbrausen, das eines Meyerbeer würdig wäre. Und im vierten Akt zu einer weiteren bewegende Arie („Il me semble parfois“), mit goldenem Glanz in der Stimme gesungen von Mercedes Arcuri, der in dieser attraktiven, anspruchsvollen Partie ein respektables Rollenporträt gelingt.
Dem Anspruch ihrer Partien stellen sich auch die Männer im Meininger Ensemble mit intensiver Verve: Tomasz Wija kehrt die Brutalität des Regenten nach außen, wirft dafür stilistische Finesse über Bord, findet aber zu den gebrochenen Tönen einer geschädigten Seele. Shin Taniguchi als Ivans intriganter Widersacher Yorloff, Paul Gay als Tscherkessenfürst Temrouk, der Vater Maries, sowie Alex Kim als dessen Sohn Igor bieten alle Kräfte auf, um glaubwürdige Personen auf die Bühne zu stellen. Das klingt nicht immer frei und schön, aber stets szenisch adäquat und nahe am Charakter der Figuren.
Regisseur Hinrich Horstkotte hat sich als eigener Ausstatter einen düsteren Kasten gebaut. Man meint auf den Pfeilern die Verschalung des Sichtbetons noch zu sehen; in den Kostümen zeigen sich folkloristische Anklänge, Schwarz-Weiß-Ästhetik und Erinnerungen an Uniformen aus den Kriegen des 20. Jahrhunderts. Auf naheliegende aktuelle Anspielungen verzichtet er zum Glück, aber der lange Tisch, den der Zar zwischen sich und seine Scharen schiebt, erinnert an ein ähnliches Möbelstück im aktuellen Moskauer Machtzentrum.
Auf diesem Tisch muss ein bulgarischer Junge zum Pläsier einer Kosakenhorde ein Lied singen. Bizet verwendet wohl mangels Kenntnis östlicher Folklore kräftiges spanisches Kolorit – und Sara-Maria Saalmann singt sympathisch frisch, aber auch mit dem Unterton der Angst in der Stimme. Die Demütigung und Vergewaltigung des Jungen lässt entschiedenen Zugriff vermissen, bildet aber ein weiteres Indiz für die psychische Beschädigung des Zaren. Horstkotte bleibt aber bei den Beziehungen zwischen den Personen oft ohne Biss. Das ist besonders schade, wenn die Musik in einer packenden Folge von Duett und Terzett im dritten Akt die Gegner Ivans zusammenführt. Man muss bei einem unbekannten Werk keine Regietheatertaten vollbringen, aber ein scharfer Blick auf Charaktere über geschickte Arrangements hinaus schadet nicht.
Am Pult der Meininger Hofkapelle waltet der bis 2022 amtierende GMD Philippe Bach. Er sorgt für eine kontinuierliche Steigerung der musikalischen Spannung. Im ersten Akt sind Bizets routinierte Momente noch auffällig – ein Duett zwischen Marie und dem jungen Bulgaren wirkt noch arg bemüht –, aber spätestens in den Ensembles, die zur grand opéra streben, läuft auch die Hofkapelle zu großer Form auf. Der Chor von Manuel Bethe wirkt dagegen allzu kompakt; die schwebende Leichtigkeit der Eröffnung, die lyrische Delikatesse des vierten Akts bleiben ein Versprechen. Summa summarum hat Meiningen mit dieser szenischen Erstaufführung unschätzbare Pionierarbeit geleistet. Andere, vor allem große Bühnen, sollten sich nicht um Nachahmung drücken. Dass Intendant Jens Neundorff von Enzberg am Premierentag, zugleich erster Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine, zu Beginn der Vorstellung um eine Schweigeminute bat, war eine noble, angebrachte Geste. Dass hinter mir deswegen Gemaule im Publikum vernehmbar wurde, hat mich betroffen gemacht.
Werner Häußner