Ludwigsburg: „EUGEN ONEGIN“ – St.Petersburger Ballett-Theater 17.10.2012 (Forum) – Mutig
Freundschaft oder Liebe? – Alexei Turco (Onegin) oben und Dmitrj Fisher (Lenski) unten. Copyright: Veranstalter Kulturgemeinschaft Stuttgart
John Crankos Ballett-Adaptierung des berühmten Puschkin-Versromans hat aufgrund ihrer Vollkommenheit bislang andere Choreographen davon abgehalten, sich diesem Stoff tänzerisch zu nähern. Doch einer hat es gewagt: Russlands führender Tanzschöpfer Boris Eifman, Mit seinem eigenen Ensemble, dem international gastierenden St. Petersburger Ballett-Theater, machte seine 2009 uraufgeführte Version nun für acht Abende Station im Ludwigsburger Forum.
Im Prinzip sollte bei einer neuen Herangehensweise die bisher existierende ausgeblendet werden, aber Crankos Choreographie ist in jeglicher Beziehung so Maßstab setzend, dass sich Vergleiche aufdrängen, seine Bilder automatisch präsent sind.
Eifman holt das Stück aus dem 19. Jahrhundert in die Zeit des nationalen Umbruchs in Russland 1991 und zeigt eine Gesellschaft im Sog der damaligen Ereignisse, die in kurzen Filmausschnitten über einen kreisrunden Leinwandausschnitt flimmern, der später sowohl ein schillerndes Farb-Kaleidoskop zeigt als auch für Sonne und Mond steht. Als schnell verwandelbares Einheitsbühnenbild (Zinowi Margolin) dient im Hintergrund ein schräg nach rechts oben verlaufender Steg, über den sich die Stützen und Hängevorrichtungen einer Brücke spannen, während auf der Tanzfläche kurzerhand bei schnell ausgeblendetem Licht wenige Requisiten wie ein Tisch, Bänke oder Stühle von den Tänzern selbst platziert werden. Eifman benötigt für seine Tanzsprache keine realistische Ausstattung. Die Kostüme von Olga Schaischmelaschwili und Pjotr Okuniew kleiden die Personen in heutige Gewänder in oft farblosen Erd- oder Grautönen, so dass Onegin ganz in mattem Rot als Fremdkörper hervorsticht. Abhängig vom jeweiligen szenischen Umfeld wechseln ihre Formen vom Alltag über den Nachtclub, wo Tatjana ihren späteren Ehemann, einen blinden General, kennenlernt, bis zum feinen Ball, wo die Damen elegant geschnittene Kleider und die Herren Frackmäntel tragen.
Die Gliederung der Handlung erfolgt bei Eifman in viele kleine Szenen, deren zeitlicher Ablauf nicht immer linear ist. So sehen wir zu Beginn einen Ball, auf dem die inzwischen verheiratete Tatjana ein Treffen mit dem nun Kontakt suchenden Onegin zu vermeiden sucht. Seine ihn plagenden Erinnerungen blättern nun die Geschehnisse der Vergangenheit als Rückblende auf: die erste Begegnung der beiden auf dem Lande, die sich nach Onegin sehnende Tatjana, ihr Brief (geschrieben in einem Lichtkegel), den Onegin aufhebt und seinerseits darin seine Abweisung formuliert. Tatjanas Traum zeigt Onegin als mutigen Ritter, der sie vor einer Schar zotteliger Unwesen rettet. Auf ihrem Namenstagsfest schäkert Onegin aus Langeweile mit ihrer Schwester Olga, woraufhin ein Streit mit deren Verlobtem Lenski ausbricht, in dessen Verlauf plötzlich ein Messer in Onegins Händen sichtbar wird, mit dem der einstige Freund getötet wird. Ob unschuldig oder vorsätzlich, das wird leider nicht so ganz deutlich. Jedenfalls eine unserer Zeit entsprechende Alternative für das heute nicht mehr glaubwürdige Duell des Puschkin-Originals.
Im zweiten Teil wird der von seinem Gewissen geplagte Onegin mehrfach vom Schatten Lenskis verfolgt, schließlich erscheint ihm dieser gar als Geist, in der choreographisch ausdrucksvollsten Szene, die eine bereits in einem früheren Pas de deux angedeutete homoerotische Beziehung der beiden noch einmal aufgreift. Eine Idee, die das Verhältnis der beiden stärker beleuchtet und für den tragischen Fortgang intensiviert. Dazwischen geschaltet sind eine kurze Prozession zum Begräbnis Lenskis, die Trauer der beiden Schwestern und ihre erste Begegnung mit dem späteren Ehemann in einem Nachtclub.
Im Schnelldurchlauf verwandelt sich Tatjana unter den Händen von Friseur und Kosmetikern vom biederen Landmädchen zur vornehmen Dame in einem glänzend weißen Kleid. In ihrem Ehe-Gefängnis bleibt sie den nun zu späten Eroberungsversuchen Onegins gegenüber unberührt, da gibt es leider keine so aufregende Auseinandersetzung zwischen Gestern und Heute wie bei Cranko. Stattdessen wird das letzte Augenmerk, und darin wiederum Puschkins Poem entsprechend, auf den betrübt zurück bleibenden Onegin gerichtet, der gar seine Ermordung durch den General träumt, und dessen wieder auf ihn zurück flatternde Liebesbriefe an Tatjana die Unerfülltheit und Sinnlosigkeit seines Lebens begreifbar machen. Ein stilles, aber doch sehr ergreifendes Schlussbild hat Eifman hier an das Ende seiner vielen kurzen, manchmal etwas abrupt und zu schnell wechselnden Szenen anstatt größerer zusammenhängender Komplexe gesetzt. Andererseits passen diese vielen Schnitte zur modernen Version dieser Geschichte wie auch zum schnittigen Charakter von Eifmans Tanzsprache, die in eruptiv durchgestalteten, sportiv anmutenden Gruppentänzen einerseits und kühn ausgereizten Hebungen mit extremen Haltefiguren ihre markantesten Merkmale aufweist. Vor allem sind es auch viele einzelne Bewegungen, ein Halten oder Führen des Kopfes, eine schräge Neigung oder ein intimer Körperkontakt, die Wesentliches der Geschichte zum Ausdruck bringen. Lichtstimmungen (Gleb Filschtinski) zwischen Diffusion und Klarheit unterstützen sie noch dabei.
Der Zerrissenheit der Szenen entspricht auch die tourneebedingt leider vom Band eingespielte Musikauswahl, die verschiedene Tschaikowsky-Kompositionen (darunter auch Vorspiel, Hauptmelodie der Briefszene und Polonaise aus seiner gleichnamigen Oper), modernen Pop-Rhythmen von Alexander Sitkowetzki zu fast Show- und Revue-Charakter annehmenden Ensemble-Szenen gegenüber stellt. Teile, die sich dann trotz passender Übertragung in die Gegenwart etwas zu weit weg von Puschkin bewegen. Vielleicht versteht aber der Choreograph als Russe die Gefühle seiner jungen Landsleute doch besser als wir dies von außen betrachten.
Interessanterweise verwendet Eifman auch die von Todesahnung durchdrungene Weise, mit der Cranko das Solo Lenskis vor dem Duell so nachdrücklich veredelt hat, sodann für Onegin auch die rasant übereinander stürzenden Schlusstakte des Hauptthemas aus „Francesca da Rimini“, welches bei Cranko die Basis für den finalen Pas de deux bildet. Als Cranko-Kenner konstatiert man auch die Streicher-Elegie, mit der dieser die Tragik seines Schwanensee-Schlussaktes unterstrichen hat. Ein Kaleidoskop an Klängen und Stimmungen, das in seiner Uneinheitlichkeit auch zur Modernität der Choreographie passt. Merkwürdig erscheint allerdings das weitgehende Ausbleiben von Gefühlsvermittlung, denn bei aller Intensität des körperlichen Ausdrucks lässt das Geschehen meist seltsam kalt. Eifmans Tänzer mögen zwar hauptsächlich auf sein bahnbrechendes Bewegungs-Vokabular und dessen akkurateste Umsetzung ausgerichtet sein, dennoch darf ihnen dieses Manko nicht alleine zugeschoben werden, zumal sie als Typen ihren Rollen nur mit geringen Einschränkungen sehr nahe kamen. An vorderster Stelle Alexei Turko in der Titelrolle, ein groß gewachsener Tänzer mit glaubhafter Dandy-Ausstrahlung, schauspielerischer Mitteilsamkeit und wo gefragt auch eleganter Haltung. Natalia Poworozniuk überzeugt mit unaufgesetztem Spiel und wendigem Körpereinsatz mehr als einfaches Mädchen denn als spätere Lady, die bei ihr leicht übergestreift wirkt. Poetisches Potential verströmt Dmitri Fischer als Lenski mit viel jugendlicher Anziehungskraft und feiner Differenzierungs-Intuition. Bei Ekaterina Schigalowas Olga kam der charakterliche Gegensatz zu ihrer Schwester nur wenig zur Geltung, ihre tänzerische Note ist allerdings sehr erfrischend. Den (warum blinden?) General umreißt Oleg Markow mit knappen Gesten und strenger Partner-Führung als passend dominierende Erscheinung der besseren Gesellschaft. In den Gruppen war die Identifikation mit Eifmans Tanz-Stil, der von Mut zum Ungewöhnlichen und zur Gekrümmtheit, aber auch zur äußersten Gespanntheit gekennzeichnet ist, besonders deutlich zu sehen. Wie da wirklich alle geschlossen an einem Strang ziehen, das beeindruckt bei allen dramaturgisch-konzeptionellen Einschränkungen im Zuge dieser Puschkin-Modernisierung doch so stark, dass sich ein Besuch dieser Truppe wie auch das Erlebnis einer Arbeit von Boris Eifman allemal lohnt.
Udo Klebes