Modernes Musiktheater in Linz: „Nijinskys Tagebuch“ von Detlev Glanert (Vorstellung: 26. 4. 2012)
Modernes Musiktheater in Linz mit zwei Sängern, zwei Schauspielern und zwei Tänzern in „Nijinskys Tagebuch“ von Detlev Glanert (Foto: Armin Bardel)
Die Kammerspiele des Landestheaters Linz boten mit der Österreichischen Erstaufführung der Oper „Nijinsky Tagebuch“ von Detlev Glanert – in Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen – wieder einmal ein modernes Musiktheater, das der Komponist als ein Werk für zwei Sänger, zwei Schauspieler, zwei Tänzer und Instrumente nannte. Die Uraufführung des etwa hundert Minuten dauernden Stücks, dessen Texteinrichtung von Carolyn Sittig nach den Tagebüchern von Waslaw Nijinsky stammt, fand 2008 im Theater Aachen statt.
Das Werk, das zwischen Prosa, Melodram und Oper angesiedelt ist, besteht aus Originalzitaten der Tagebücher von Nijinsky, die der exzentrische Tänzer in den Wochen vor seiner Einlieferung in eine Heilanstalt im März 1919 führte. Dreißig Jahre lang musste der an Schizophrenie leidende Künstler fortan in Kliniken und Heimen verbringen. Nijinsky hatte in diesen Tagebüchern neben Alltäglichem und Banalem Erinnerungen, Visionen, Gedichte, Philosophisches, aber auch erotische Empfindungen und seine Gedanken über Gott eingetragen, die in Glanerts sinnlichem Musiktheater von sechs Darstellern deklamiert und gesungen werden. Als Beispiel ein paar Zeilen aus Nijinskys Tagebüchern, die dem gut illustrierten Programmheft entnommen sind: Ich warte auf Gottes Anweisungen. Ich schreibe lange. Aber ich gehe nicht schlafen, denn Gott will es nicht. Gott will, dass ich viel schreibe. Gott heißt mich schreiben. Ich werde schlafen gehen, wenn er mich anweist, es zu tun. Ich warte auf seine Anweisungen.
Waslaw Nijinsky (geboren 1888, 1889 oder 1890 als Sohn polnischer Eltern in Kiew, gestorben 1950 in London) war der große Star des „Ballets russes“, jener berühmten Balletttruppe, die unter der Leitung von Sergej Diaghilew um 1910 in Europa zum Inbegriff einer Avantgarde des Tanzes wurde. Nijinsky, der für seinen ausdrucksvollen und technisch perfekten Stil Berühmtheit erlangte, übernahm auch bald die Rolle des Choreographen. Die Uraufführung von Strawinskys Le Sacre du Printemps wurde 1913 in Paris in seiner Choreographie zu einem der größten Kunstskandale des anbrechenden 20. Jahrhunderts.
Rosamund Gilmore inszenierte die Oper als eine Reise durch Nijinskys Gedankenwelt, wobei die sechs Darsteller durch ihre gute Personenführung im Gleichklang zur Musik stets in Bewegung blieben (die Regisseurin choreographierte selbst) und dadurch keine Langeweile aufkam, wenngleich einige wenige Besucher nach etwa sechzig Minuten „entnervt“ das Haus verließen. Nicola Reichert schuf ein Bühnenbild mit zahlreichen Koffern in verschiedenen Größen – wohl auch in Anspielung auf Nijinskys ständige Reisen, die ihn kreuz und quer durch Europa, aber auch nach Nord- und Südamerika führte. (In Wien, wo er sich Heilung seiner Krankheit durch Prof. Poetzl erhoffte, kam 1914 seine erste Tochter Kyra zur Welt und 1920 seine zweite Tochter Tamara.)
Sehr eindrucksvoll agierten die Sopranistin Belinda Loukota und der Bariton Martin Achrainer als die beiden Sänger, wobei besonders seine warme, lyrische Stimme ins Ohr ging. Die beiden Schauspieler Barbara Novotny und Karl M. Sibelius rezitierten Nijinskys Texte sehr wortdeutlich, die beiden Tänzer Ilja van den Bosch und Daniel Morales Pérez konnten sowohl durch Eleganz wie auch durch Akrobatik gefallen. Festzuhalten ist, dass auch sie Texte zu sprechen hatten und dies gut bewältigten.
Das in Kammerbesetzung spielende Bruckner-Orchester Linz unter der Leitung von Ingo Ingensand gab die oft ungewöhnlich klingende Partitur mit großer Routine wieder. In einem im Programmheft abgedruckten Interview erläutert Detlev Glanert die eigenwillige Orchesterbesetzung seiner Komposition. Ein Zitat daraus: „Es gibt barocke Instrumente, romantische und elektrische, also heutige Instrumente. Das ergibt wiederum die Möglichkeit, Nijinskys Entgrenzung auf einer ganz anderen Ebene weiterzuführen, wenn etwa die Klänge von E-Gitarre und Blockflöte miteinander vermischt werden. Diese Klangmischungen sind äußerst reizvoll!“
Das Publikum im fast ausverkauften Haus feierte alle Mitwirkenden – die Orchestermusiker wurden am Schluss vom Dirigenten zurecht auch auf die Bühne geholt – mit Jubel und lang anhaltendem Beifall, wobei die Phonstärke bei den Sängern und Tänzern besonders anschwoll.
Udo Pacolt, Wien – München