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LINZ: DER NUSSKNACKER – Ballett von Mei Hong Lin. Premiere

LINZ/ Musiktheater: DER NUSSKNACKER. Premiere am 11.10.2014

Ballett von Mei Hong Lin, nach Erzählungen von Ernst Theodor Amadeus Hoffmann und Alexandre Dumas père.

Musik von Peter I. Tschaikowsky

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Schneeflocken. Copyright: Barbara Aumüller/ Linzer Musiktheater

Seit der Uraufführung 1892 in St. Petersburg zählt der Nußknacker (Щелкунчик, Schtschelkuntschik) zum Standardrepertoire der Tanztheater, und das – aufgrund der Thematik – besonders häufig um die Weihnachtszeit. Seine ursprüngliche szenische Gestalt geht auf Altmeister Marius Petipa bzw. dessen Assistenten Lew Iwanow zurück.

Die Linzer Ballettdirektorin Mei Hong Lin hat eine neue Choreographie, auch anhand einer geringfügig abgeänderten Geschichte erstellt (Dramaturgie: Ira Goldbecher), die modernem Tanztheater, mit einigen klassischen Anteilen, entspricht. Der Beginn (den Baum Schmücken, Marsch der Zinnsoldaten) wird szenisch auf die Straße verlegt – Weihnachtseinkäufe, Eislaufen (letzteres großartig imitiert vom Ensemble, inklusive der köstlich „körperlich etwas unbeholfen“ dargestellten Großeltern Sven Gettkant und Anna Štĕrbová), bis hin zu ein paar Eishockeyspielern, die sich unter das Volk auf der Straße mischen. Die Bescherung dann gemäß Originalbuch, allerdings mutiert der „Onkel Geheimrat Drosselmeier“ zu einer von Anfang an von einer mysteriösen Aura umgebenen Tante gleichen Namens – mit dominierender Bühnenpräsenz und Eleganz dargestellt von Andressa Miyazato; die selbe Tänzerin führt, als im Traum abgewandelte Figur, später als Fee etwa in der Rolle einer „Mistress of Ceremonies“ durch die Szenen. Der Originalversion entsprechend ist das Drama knapp vor Ende des ersten Aktes mit dem Sieg von Clara (per Zuneigung) über den verbitterten Mäusekönig (Wout Geers) und damit der Rettung des Nußknackers (Alexander Novikov) eigentlich zu Ende; was folgt sind „exotische“ Szenen im weiteren Verlauf des Traums von Clara in der Christnacht, und final die Versöhnung der am Weihnachtsabend etwas in Unordnung geratenen Familie – Clara: Rie Akiyama, Bruder Fritz: Geoffroy Poplawski, der natürlich viel lieber selbst den Nußknacker bekommen hätte – man kennt das…; Vater: Damián Cortes Alberti, Mutter: Lara Bonnel Almonem und die schon erwähnten Großeltern.

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Matrjoschka. Copyright: Barbara Aumüller/ Musiktheater Linz

Die folgenden eher revueartigen Szenen, im Originalbuch teils mit „Divertissement“ überschrieben, in der aktuellen Fassung als “im Zauberland“, bieten dann weiten Raum für tänzerische wie ausstattungsmäßige Brillanz. Und man läßt sich diese Chance auch nicht entgehen – sei es mit klassischem Ballett (freilich ohne Spitzentanz) etwa im Schneeflockenwalzer, sei es eine Lektion in Stierkampf inclusive eines gehörnten Radlbockes zum Schokoladen-Bolero, düstere Verschleierte beim arabischen Kaffee, ein nobler Ball beim Blumenwalzer, immer wieder elaboraten pas de deux oder einer bis zu zehnbeinigen Matrjoschkapuppe; es gibt immer etwas zu staunen und manches zu lachen in dieser temporeichen und teils akrobatischen Inszenierung, und trotzdem kommen lyrische Momente nicht zu kurz. Viele der Tänzerinnen und Tänzer übernehmen mehrere Rollen, mit entsprechend aufwendiger Kostüm(wechsel)betreuung, die aber auf die Minute, besser: Sekunde funktioniert (Kostümdesign: Bjanka Ursulov, Umsetzung: Richard Stockinger, Christa Dollhäubl, Raimund Steininger, Doris Hornsey); die ausdrucksstarken und tänzerisch bis akrobatisch bis aufs letzte engagierten Damen und Herren des Ensembles (als Mäuse, Soldaten, nicht immer ganz rein weiße Schneeflocken, Torero & Stierimitat, Araber, Chinesen, Matrjoschkas u. a., aber immer auch in Solorollen!) sind: Alexander Novikov, Anna Štĕrbová, Damián Cortes Alberti, Ines Fischbach, Jonatan Salgado Romero, Julio Andrés Escudero, Lara Bonnel Almonem, Mireia González Fernández, Nuria Gimenez Villarroya, Ohad Caspi, Rutsuki Kanazawa, Sakher Almonem, Stefanie Pechtl, Sven Gettkant, Wout Geers.

Entscheidendes zum Zauber dieser Inszenierung trägt aber die Bühne (Dirk Hofacker; Beleuchtung: Johann Hofbauer) bei, deren bestimmende Elemente etwa vom naiv gezeichneten, vielleicht einem Kinderbuch entsprungenen, Tannenbäumchen bis zu dessen modern aufs Äußerste reduziertem Pendant aus einer grünen Lichtschlange reichen, vom imaginierten Eislaufplatz am Rande einer Einkaufsstraße bis zu einer mystischen Nacht in der arabischen Wüste. Oft wird die Grundstimmung der Szene durch eine Lichtwand im oberen Stock der Bühnenbegrenzung bestimmt. Und dann sind da hunderte Kugeln aus opakem Acryl, von ca. 15 bis 50 cm Durchmesser, in Ketten vom Schnürboden hängend, einmal hoch, einmal tief, oder ganz am Boden aufliegend, die offensichtlich mittels pro Kugel getrennt steuerbaren LEDs alle denkbaren Farben annehmen können, von weiß wie die Schneeflocken bis rot oder blau (dank der Arbeit der neuen Physik-Nobelpreisträger Isamu Akasaki, Hiroshi Amano und Shuji Nakamura). Und die Szene zu Beginn des zweiten Aktes wird überhaupt von einem Farbballett dieser Kugeln bestimmt: eine Fülle von höchst einprägsamen und trotz ihrer Abstraktion mitunter höchst romantischen Bildern!

Natürlich verdankt der „Nußknacker“ viel von seiner beständigen Wirkung der symphonisch ausgefeilten und effektbewußten Komposition des reifen Tschaikowsky (er ließ z. B. für diese Musik die erstmals in Paris gehörte Celesta ins Zarenreich bringen – „aber bitte unter äußerster Diskretion, damit Rimsky-Korssakov und Glasunow nichts davon erfahren und mir den neuen Effekt wegschnappen!“).

Das Bruckner Orchester leistete unter dem Dirigat von Dennis Russell Davies wieder Großartiges – auch wenn es in der sehr rasch (aber musikalisch plausibel!) angegangenen Ouverture einen oder zwei winzige Kickser bei den Violinen gab, wurde dies doch durch die perfekt wiedergegebenen teuflisch schwierigen Flageolett-Läufe bei den Schneeflocken oder die ähnlich anspruchsvollen Stellen im Finale wettgemacht. Besonders blühend der Klang der Bratschen und Celli, doch auch die glasklaren und präzisen Harfen und Flöten verdienen Erwähnung – ohne damit die anderen Instrumentengruppen mißachten zu wollen, die zum erstklassigen Gesamteindruck das Ihre beitrugen. D. R. Davis hat für diese Inszenierung übrigens die Partitur der Urfassung besorgt, in der an einer Stelle auch ein glockenklarer Kinderchor (im ersten Rang placiert) fast schon Sphärenklänge beiträgt (Einstudierung Ursula Wincor).

War das Publikum – eigentlich unverständlich – mit Szenenapplaus im ersten Akt geizig, wurde dieser im zweiten reichlich gegeben, und der Schlußapplaus geriet lange, laut und begeistert, für Ausführende wie Produktionsteam.

Übrigens: die Linzer Tanztruppe ist in den nächsten zwei Wochen auf Tournee in Südkorea… aber, „wie es sich gehört“: um die Weihnachtszeit herum, wird das Stück wieder regelmäßig auf dem Linzer Spielplan stehen und mit Sicherheit große Augen im Auditorium hervorrufen!

 H & P Huber

 

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