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HAMBURG/ St. Michaelis: MATTHÄUS-PASSION von J.S.Bach in der Choreographie von John Neumeier

Ballett Matthäus Passion. Musik: Johann Sebastian Bach, Choreographie: John Neumeier –  am 18. Juni 2013

(Wiederaufnahme – Premiere am 25. Juni 1981)

Hauptkirche St. Michaelis („Michel“), Hamburg

http://www.hamburg-ballett.de

Fotos: Holger Badekow

Bach in Bewegung

 Auf die Idee muss man erst einmal kommen – die Musik der Leidensgeschichte Christi in Tanz zu transformieren. Mehr eine Generation lang ist es her, seit sich John Neumeier nach längerem Ringen zu diesem Wagnis aufmachte. Bei der Uraufführung 1981 in der Hamburger Staatsoper noch zuweilen als Sakrileg betrachtet, ging die getanzte Matthäus Passion Johann Sebastian Bachs danach im Siegeszug um die Welt, von Tokio bis Toronto. Nun kehrt die Aufführung anlässlich der 40. Hamburger Balletttage, seit längerem wieder zurück in die Hamburger Hauptkirche St. Michaelis (Michel).

Bachs geistliche Musik wird heute häufiger im Konzertsaal als in der Kirche gespielt wird, entkoppelt von der Stätte, für die sie der Thomaskantor komponiert hat. Ähnlich verhält es sich mit der Ballett-Version der Passion: Schon innerhalb Hamburgs dominierte bei den zahlreichen Reprisen das Operngebäudevor dem Michel als Aufführungsort, der Rest der Welt kennt das Stück nur außerhalb des sakralen Raumes.

Das dazu passende, immer gleiche Bühnenbild wurde von dem Hamburger Choreographen Neumeier, der bei diesem, seinem nach eigenem Bekunden „persönlichstem“ Ballett, für alles außer die Musik verantwortlich zeichnet, radikal minimalistisch, zugleich tourneekompatibel konzipiert: Ein dunkler Boden, ein dreistufiges Plateau und mehrere Bänke, zunächst flach, dann aufgestellt, schließlich teilweise zum Kreuz gebaut, das war´s. Dazu sind alle Mitwirkenden in das gleiche, schlicht weiße Leinen gekleidet. Der raumgreifende Tanz verdrängt Orchester, Chor und Solisten von der Bühne aufs das stets mitreisende Tonband.

Anders sieht es nun bei der Wiederaufnahme aus. Der großzügig, für eine protestantische Kirche ungewöhnlich barocke Innenraum des Michel, bietet auf der Empore Platz für Orchester, Chor und acht Solisten. Zugleich schafft er ein Gefühl der Weite, durch den s das Tanzgeschehen droht in den Hintergrund zu geraten. Hinzu fällt sommerliches Junilicht durch die vielen, neu renovierten, glasklaren Fenster. Statt schwarz verhangen ist der Bühnenraum nun lichtdurchflutet.Das tut der Aufführung nicht gut und hierin mag auch der Hauptgrund für die zunächst leichte Unkonzentriertheit im Publikum liegen. Als im zweiten Teil, die Sonne abflaut kommt mit der Kreuzigungsszene wieder die gewohnte Anspannung auf – und entlädt sich am Ende in minutenlangen Applaus.

Am Dirigentenpult steht noch einmal Günter Jena, jener Mann also, der sich vor einer Generation als Kirchenmusikdirektor sehr für das damals stark umstrittene Projekt einsetzte. Seine Interpretation der Musik Bach ist fein artikuliert, jedoch nicht frei von Längen und gedehnten Tempi. Hier verhält sich die Live-Aufnahme nicht anders als die vom gleichen Dirigenten im Michel vor über 30 Jahren eingespielte Tonbandaufnahme, die sonst das Ballett begleitet.

Ihm ginge es darum, für die Musik Bachs und nicht für die Leidensgeschichte Christi eine passende tänzerische Formulierung zu finden, so betont Neumeier die Motivation für seine Choreographie. Ob sich beides bei der Matthäus Passion überhaupt trennen lässt? Zwar stellt die getanzte Passion, auch wenn sie dort im Jahre 2007 gastierte, kein zweites Oberammergau dar. Jedoch bilden die dramaturgischen Elemente der Leidensgeschichte auch die Klammern für die Tanzgeschichte: Die Verleugnung des verzweifelt herumirrenden Petrus; die Auspeitschung Jesu, bei der alle nachtreten; der Tod des Heilands, zu dem mit lautem Knall eine Bank längs auf den Boden knallt; diese und andere Szenen bebildern das Ballett auf höchst eindeutige Weise.

Dazwischen mischt der Choreograph immer wieder gestische, liturgisch anmutende Tanzbewegungen hinein. Dann wieder unterstreichen reckende Arme, stampfende Füße, zitternde Körper plakativ die emotionale Verfassung der sich um, neben, und unabhängig von Jesus, herum gruppierenden Menschen. Hektisches Herumrennen wechselt sich ab mit harmonischen Rundtänzen.

Jesus selbst wird von Lloyd Riggins, jünglingshaft und dennoch reif und bei allem sehr überzeugend verkörpert. Mal sich einfügend als Mensch unter Menschen, mal herausgehoben als Gottes Sohn, wirkt er dabei jedoch nie so unnatürlich dominant, wieder Chef der Compagnie, als er noch selbst den Heiland tanzte.

Was hätte Johann Sebastian Bach wohl selbst zu diesem Meilenstein der Rezeption seines Werkes gesagt? Und könnte man, und wenn ja wie, Bewegungen zu diesem Stück anders formulieren als es John Neumeier getan hat? Die letzte Frage bleibt bislang schlicht deshalb unbeantwortet, weil es an Alternativen mangelt, zu denen diese Aufführung in Bezug gesetzt werden kann. Seit der Leipziger Uraufführung der Matthäus Passion im Jahre 1729 hat sich niemand sonst daran gewagt, das ganze Oratorium in Tanz zu übersetzen. Dieser Bach in Bewegung ist damit eines, und das auch jetzt wieder in Hamburg, ganz sicher – unvergleichlich.

 Thomas Böckenförde

 

 

 

 

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