Opernrarität in Frankfurt: „Orpheus“ von Georg Philipp Telemann (Vorstellung: 29. 5. 2014)
Sebastian Geyer als Orpheus schlafend im Wald (Foto: Monika Rittershaus)
Seit Jahren bringt die Oper Frankfurt im Bockenheimer Depot wiederentdeckte oder sehr selten gespielte Werke, so auch in dieser Saison: „Orpheus oder Die wunderbare Beständigkeit der Liebe“ von Georg Philipp Telemann. Der deutsche Komponist (geb. 1681 in Magdeburg, gest. 1767 in Hamburg) hinterließ ein unglaublich umfangreiches Schaffen: 1043 Kantaten, 122 Orchestersuiten, 49 Passionen und etwa 50 Opern, von denen allerdings nur acht überliefert sind.
„Orpheus“, das musikalische Drama in drei Akten, dessen Text der Komponist selbst verfasste und das im Jahr 1726 in Hamburg (am Theater am Gänsemarkt) konzertant uraufgeführt wurde, gelangte erst zehn Jahre später unter dem geänderten Titel „Die rachbegierige Liebe oder Orasia, verwitwete Königin in Thracien“ zur szenischen Aufführung. Das etwa fünf Stunden lange Werk wurde nun in einer gekürzten Fassung von etwa 100 Minuten (ohne Pause) im Bockenheimer Depot, das bis auf den letzten Platz gefüllt war, gezeigt.
Die Geschichte von Orpheus und Orasia spielt sich auf zwei Ebenen ab: am Hof der Königin und in Plutos Reich, also in der Ober- und in der Unterwelt. Die Götter überlassen den Verlauf der Liebesgeschichte den irdischen Gesetzen. Orasia, die in Orpheus, den Sänger an ihrem Hof, verliebt ist, ermordet ihre Rivalin Eurydike. Als Orpheus Eurydike aus der Unterwelt zurückholen will, aber die Bedingung Plutos nicht erfüllt und allein wiederkehrt, erwartet ihn bereits Orasia. Da er sie aber neuerlich zurückweist, verwandelt sich Orasias Liebe in Hass. Sie hetzt die Bacchantinnen auf den Sänger, die ihn töten. Nach seinem Tod begeht Orasia Selbstmord.
Die Regisseurin Florentine Klepper erläutert in einem im Programmheft abgedruckten Interview ihre Vorstellungen zur Inszenierung der Oper: „Der Librettist / Übersetzer Telemann erlaubt sich im Umgang mit dem Orpheus-Mythos inhaltlich ähnliche Freiheiten wie auf der musikalischen Ebene. Das Interessante daran ist, dass Telemann nicht NOCH eine Orpheus-Oper geschaffen hat, wie man sie bereits kennt, sondern etwas Neues entwickelt. Er nimmt die wohlbekannte mythologische Geschichte nur als Grundlage, um sie nach seinen Vorstellungen weiterzuentwickeln. Die markanteste Änderung ist die Einführung einer neuen fiktiven Protagonistin, der thrakischen Königin Orasia. Wir wollten in unserer Umsetzung einen Weg finden, mit dieser Freiheit umzugehen, ohne jedoch die elementare und zeitlose Kraft des mythologischen Urstoffes einzubüßen.“
Elizabeth Reiter als Königin Orasia mit der „Spaßgesellschaft“ in ihrem Palast (Foto: Monika Rittershaus)
Diese Umsetzung gelang der Regisseurin ausgezeichnet, indem sie in der Oberwelt eine ausgelassene „Spaßgesellschaft“ auf die Bühne stellt, die einen krassen Gegensatz zur Unterwelt Plutos bedeutet. Diese auch mit sexuellen Übergriffen agierende Gesellschaft wird durch den Konzertchor Darmstadt (Einstudierung: Wolfgang Seeliger) dargestellt, der sich in dieser Rolle auf köstliche Art auszutoben schien. In diesem Zusammenhang muss auch die exzellente Personenführung der Regisseurin gewürdigt werden. Einen reizvollen Kontrast zur Werkstattatmosphäre des Theaters bot die Bühnengestaltung durch Adriane Westerbarkey, die auch für die Kostümentwürfe verantwortlich zeichnete, beim ausgelassenen Fest im Königspalast, bei dem die Damen und Herren in eleganten Kostümen zur Barockmusik und zu Gitarrenklängen (Gitarre und Laute: Johannes Öllinger) tanzten. Für die kreative Lichtgestaltung sorgte Jan Hartmann.
Die Titelrolle verkörperte der Bariton Sebastian Geyer mit seiner prächtigen lyrischen Stimme und seiner starken Bühnenpräsenz auf ideale Art und Weise. Seine in einem warmen Ton und mit präziser Wortdeutlichkeit gesungenen Arien zählten zu den Höhepunkten der Aufführung. Eher zurückhaltend agierte die junge Sopranistin Katharina Ruckgaber als Eurydike – ganz im Gegensatz zur amerikanischen Sopranistin Elizabeth Reiter, die als Orasia ihre von Wut und Hass geprägten Arien mit oft schrillen Tönen ins Publikum schmetterte. Auch schauspielerisch drückte sie ihre Gefühle leidenschaftlich aus, wobei sie einmal fast über die Stufen einer Treppe gestolpert wäre.
Eurimedes, der Freund von Orpheus – er ermutigt ihn, Eurydike mit der Kraft seiner Kunst aus der Unterwelt zurückzuholen – wurde vom Tenor Julian Prégardien dargestellt. Auch er begeisterte durch seine lyrisch-warme Stimme. Die freiheitsliebende Cephisa – sie weist Eurimedes’ Liebe schroff zurück – wird von der in Mexiko geborenen Sopranistin Maren Favela mit großem Liebreiz gespielt, während der südafrikanische Bass Vuyani Mlinde Pluto, den Herrscher der Unterwelt, mit überdimensionaler Größe eindrucksvoll auf die Bühne stellte. Seinen Diener Ascalax spielte der russische Countertenor Dmitry Egorov in eher merkwürdig invalid scheinender Aufmachung, lieh ihm aber zur Freude des Publikums seine an Facetten reiche Stimme.
Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester, von Titus Engel mit beinahe artistischem Einsatz geleitet, spielte auf historischen Instrumenten und brachte die musikalisch so unterschiedlichen Stile dieser Oper voll zur Geltung. Das Publikum drückte am Schluss der Vorstellung seine Begeisterung mit frenetischem Applaus und lautem „Trampeln“ mit den Füßen aus, das offensichtlich von München, wo es als Beifallskundgebung schon seit langem Usus (oder Unsitte?) ist, bereits nach Frankfurt übersprang. Viele Bravorufe gab es für Elizabeth Reiter, Sebastian Geyer, Julian Prégardien und Dmitry Egorov sowie für das Orchester und seinen Dirigenten.
Udo Pacolt