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ESSEN/ Aalto-Theater: WERTHER – 2. Vorstellung der Neuinszenierung

03.12.2013 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

Essen: WERTHER am 03.12.2013 (Premiere am 30.11.)

 Während der Saisonauftakt nur bedingt erfolgreich war, ist dem Aalto-Theater mit der zweiten Produktion unter Führung des neuen Intendanten Hein Mulders ein großer Wurf gelungen. Das beginnt bei der Inszenierung, die dem Venezolaner Carlos Wagner anvertraut worden ist. Er vermeidet pseudointellektuelle Mätzchen, orientiert sich weitgehend am Libretto und hat sich von Frank Philippe Schlößmann ein se¬henswertes Bühnenbild erstellen lassen, welches das Innere des Hauses des Amt¬manns auf zwei Etagen zeigt. Vom Erdgeschoß führt eine Stiege in den Speicher, auf dem sich im 3.Akt Werther und Charlotte zusammenfinden. Im Erdgeschoß sieht man eine Art Wohnstube mit Eßtisch, in deren Hintergrund sich ein Baumstamm be¬findet, der offenbar bei einem heftigen Sturm ins Haus eingeschlagen ist. Das ist aber auch die einzige krause Idee. Hinsichtlich der Personenführung beweist Carlos Wagner, dass er sein Handwerk versteht, sei es, dass Werther in den ersten beiden Akten Sophie meist scheu in halber Höhe auf der Stiege kauernd anschmachtet, während diese sich in der Wohnstube aufhält und sich um ihre Geschwister kümmert. Der Amtmann ist das, was man neudeutsch „notgeil“ nennt. Er begrabscht seine Töchter. Sophie läuft kurzerhand weg. Charlotte läßt sich das nicht gefallen und haut ihm eine runter. Erwähnenswert sind auch die Szene mit drei „standesgemäß“ betrunkenen Burschenschaftern und ferner die Idee, daß bei heftigen Gefühlsaufwallungen jeweils ein Windstoß herbstlich gefärbte Blätter durchs offene Fenster in die Stube treibt. Im letzten Akt fährt das Haus des Amtmanns langsam aus dem Bühnenvordergrund auf die Seitenbühne, sodass die Vorderbühne frei wird für die Begegnung zwischen Werther und Charlotte, die sich ein letztes Mal im weihnachtlichen Schneetreiben austauschen, bevor Werther seinem Suizidversuch erliegt.

 Es liegt nahe, daß gerade diese Produktion gewählt worden ist, weil vier ausgezeich¬nete Solisten zur Verfügung standen. Da waren zum einen der in jeder Hinsicht solide Heiko Trinsinger als glaubhaft bourgoiser Albert mit angemessenen baritonalen Mitteln. Als weiteres Ensemble-Mitglied spielte sich Christina Clark als mädchenhaft agile Sophie in die Herzen der Zuschauer und sang dabei auch noch mit erfrischend unverbrauchtem Sopran. Charlotte war die auch in Wien bekannte Michaela Selinger. Sie nahm bereits durch ihre attraktive jugendliche Erscheinung für sich ein, sang die Partie kultiviert und mit gepflegter Mezzavoce. Bei den Aufschwüngen klang ihr Sopran hingegen leicht angestrengt und nicht immer leuchtkräftig.

 Alle drei überragte der Marokkaner Abdellah Lasri in der Titelrolle. Er besitzt einen ausgeglichenen und angenehm timbrierten Tenor mit Strahlkraft in allen Lagen und brilliert mit mitreißenden Höhen (insbesondere natürlich im „Porquoi me reveiller“). Er überzeugt zudem mit makelloser Linienführung und sieht auch noch exzellent aus (was allerdings bei seinen gerade einmal einunddreißig Jahren nicht so überra-schend ist). Bezeichnenderweise übernimmt er an der Opéra Bastille dieselbe Partie von Jonas Kaufmann, was den Rezensenten zu der mutigen Prognose veranlaßt, dass er bei weiterer kontinuierlicher Entwicklung innerhalb der nächsten fünf Jahre eine vergleichbare Karriere an den führenden Häusern der Welt machen könnte. Gegenwärtig ist er auch an der Berliner Staatsoper engagiert und wird dort von Daniel Barenboim offenbar behutsam aufgebaut. Allein seinetwegen lohnt sich der Besuch der Essener Produktion.

 Die kleinen Partien waren durchweg angemessen besetzt. Das gilt für Tijl Faveyts (Le Bailli), Martijn Cornet (Johann), Rainer Maria Röhr (Schmidt), Eduard Unruh (Brühlmann) und Julia Wietler (Käthchen).

 Der noch relativ junge Franzose Sébastien Rouland breitete mit den Essener Philharmonikern einen opulenten Klangteppich aus, der nur durch gelegentliche Unsau¬berkeiten des Blechs getrübt wurde. Es ist keine Frage, daß er seinen Massenet bis in jede Note kennt und sich in die Partitur geradezu einleben kann. In Deutschland ist er bislang in erster Linie durch seine Dirigate in Wiesbaden und Stuttgart bekannt.

 Der Kinderchor ist zumeist die Achillesferse einer Aufführung. Nicht so in Essen. Patrick Jaskolka hatte die mit großem Eifer singenden und spielenden Kinder sehr gut vorbereitet und mit ihnen eine Art Bewegungschoreographie einstudiert, die auch noch reibungslos funktionierte. Jeder Opernfreund, der beispielsweise die regelmäßigen Desaster mit den Kinderchören in der „Carmen“ erleiden mußte, weiß, daß das gar nicht hoch genug zu schätzen ist.

Klaus Ulrich Groth

 

 

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