„Bach-Pasticcio“ in Erfurt: „Triumph der Liebe“ nach Marivaux (Vorstellung: 30. 11. 2012)
Julia Neumann als Königin Leonora in Männerkleidung (Foto: Theater Erfurt, Lutz Edelhoff)
Mit einem interessanten Projekt wartete das Theater Erfurt auf. Ihr Generalmusikdirektor Samuel Bächli stellte sich im Vorjahr die Frage, wie es wäre, wenn Johann Sebastian Bach eine Oper geschrieben hätte. Aus mehreren Kantaten des Komponisten stellte er eine Partitur zum Schauspiel „Triumph der Liebe“ von Pierre Carlet de Marivaux zusammen und fabrizierte so die gleichnamige Oper in deutscher und italienischer Sprache, die 2011 mit großem Erfolg ihre Uraufführung im Studio des Theaters Erfurt erlebte.
Der Inhalt des Intrigenspiels: Königin Leonora weiß um die Unrechtmäßigkeit ihrer Herrschaft. Ihr Vater hatte einst die Königsfamilie ermordet, um selbst an die Macht zu kommen. Einzig der junge Prinz Medoro überlebte das Massaker, ist seither aber spurlos verschwunden. Zufällig erfährt Leonora von dessen Aufenthaltsort im Haus des Philosophen Edoardo und dessen Schwester Francesca. Als Mann verkleidet und unter dem Namen Riccardo sucht Leonora Einlass bei Edoardo, um dort Medoro die ihm zustehende Königskrone zurückzugegeben. Doch der scheinbar so einfache Plan führt zu einem bald heiteren, bald tragische Züge annehmenden Verwirrspiel. Denn Leonora hat mit allem gerechnet – nur nicht mit der Liebe. Und so fällt sie von einem Herzensabenteuer in das andere: als Riccardo mit Francesca, unter dem Namen Aspasia mit Edoardo, und schließlich in Gestalt des jungen Orlando mit Prinz Medoro selbst. Keiner der Beteiligten wird das Gefühlschaos unbeschadet überstehen, vor allem wegen des windigen und geschäftstüchtigen Gärtners Cecco!
Ein im Programmheft abgedrucktes Gespräch, das Samuel Bächli mit Musikdramaturg Berthold Warnecke führte, veranschaulicht den Inhalt und die Musik des neuen Werks recht gut. Daraus zwei Zitate des Dirigenten: „Auffällig an dieser Komödie ist die typisch französische Gesellschaftlichkeit: die Intrigen, die Wahrung der Form und vor allem die unglaubliche Verlogenheit der Hauptfigur. Bei Marivaux ist es eindeutig, dass sie mindestens zwei der drei Liebhaber an der Nase herumführt und absichtlich täuscht. Wir bewundern die Virtuosität, mit der diese Frau lügt. In unserer Oper hingegen werden ihre Gefühle durch die Musik ganz ehrlich, was zu einer vielleicht noch spannenderen Geschichte führt. Eine Frau, die zunächst unbewusst die geheimen Wünsche ihres jeweiligen Gegenübers erfüllt und deshalb ganz unterschiedliche Rollen spielt, entwickelt dadurch so viele echte Gefühle, dass sie die Kontrolle über ihr Leben verliert.“ … „Im Triumph der Liebe geht es aber nicht nur darum, Bachs Musik anders zu beleuchten, sondern vor allem darum, aufregende Musik den Zuschauern vorzustellen: Musik, die weitgehend unbekannt ist, obwohl sie von einem so berühmten Komponisten stammt. Da möchte ich meine Entdeckerfreude mit dem Publikum teilen.“
Bettina Lell, die gemeinsam mit Samuel Bächli die deutschen Rezitativtexte verfasste, gelang eine für die kleine Studiobühne recht passable und humorvolle Inszenierung mit guter Personenführung, in der sie sogar den Dirigenten kurz mitspielen lässt, als Leonore ihm den Dirigentenstab entreißt, um sich mit dem „Dolchersatz“ ein nicht ganz ernstgemeintes Duell zu liefern. Auch wird einige Male der Zuschauerraum zur Bühne. Für die zum Werk gut passende barocke Ausstattung – Landschaftsbilder auf großen Leinwänden, die wie Vorhänge verschiebbaren waren, bildeten den ovalen Hintergrund der Bühne sowie elegante Kostüme der Spätbarockzeit – zeichnete Jeannine Cleemen verantwortlich.
Als Leonora, Königin von Sizilien, konnte die junge Sopranistin Julia Neumann alle ihre weiblichen Vorzüge zur Geltung bringen. Es schien, als spielte sie ihre Rolle mit lustvollem Vergnügen – egal ob sie Männer- oder Frauenkleidung trug, egal ob ihr „Lustobjekt“ eine Frau oder ein Mann war. Ungeniert wechselte sie des Öfteren auf der Bühne ihr Gewand, um sich danach mit Leidenschaft entweder Francesca oder Don Edoardo oder Prinz Medoro hinzugeben. Dazu war ihre hellklingende Stimme in Höchstform und bewältigte auch alle Koloraturen mühelos. Eine beeindruckende Leistung!
Der windige Gärtner Cecco – vom Tenor Marwan Shamiyeh mit Humor gespielt – beobachtete mit Staunen, aber auch mit Freude die diversen Liebesszenen der Königin, die ihm so manches Schweigegeld eintrugen. Der Bariton Máté Sólyom-Nagy als Philosoph Don Edoardo ließ seine mächtige, volle Stimme erklingen und weidete sich mit Vergnügen an der schlafenden Leonora, ehe er sie auf raffiniert-zarte Weise entblätterte. Die hübsche vollbusige Mezzosopranistin Anna Agathonos stellte seine Schwester Francesca dar, die sich in die verkleidete Leonora nicht minder heftig verliebte und ihre Verliebtheit in innigen Umarmungen auslebte. Dass sie dabei nicht erkennt, dass sie eine Frau in ihren Armen hält – nun ja, Liebe macht eben blind…
Als Prinz Medoro konnte der aus Bayern stammende Countertenor Benno Schachtner am Schluss Leonora in seine Arme schließen, nachdem sie einander zur Überraschung des Publikums geohrfeigt hatten. So manche Liebe entsteht und vertieft sich erst nach „Handgreiflichkeiten“! Der Triumph der Liebe mündete in einen innigen Kuss.
Das Philharmonische Orchester Erfurt – rechts von der Bühne platziert – wurde vom „Schöpfer“ der Oper Samuel Bächli sehr einfühlsam und aufmerksam geleitet. Kein leichtes Unterfangen, den in seinem Rücken singenden Solisten die Einsätze zu ihren Arien zu geben.
Am Schluss der Vorstellung führte der Dirigent sein gesamtes Orchester auf die Bühne. Eine nette Geste, die vom Publikum mit spontanem Beifall gewürdigt wurde. Für alle Mitwirkenden an diesem „Opern-Pasticcio“ gab es schließlich lang anhaltenden Applaus.
Udo Pacolt, Wien – München