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DURCH DAS JAHR MIT DEM BUCH DER TAGEBÜCHER

Buchcover Tagebücher Xxx

Rainer Wieland (Hsg.)
„STAND SPÄT AUF, LEGTE MICH DANN ABER WIEDER HIN“
DURCH DAS JAHR MIT DEM BUCH DER TAGEBÜCHER
697 Seiten, Piper Verlag, 2020

Es gibt gerade in der deutschen Literatur legendäre Tagebuchschreiber, die einen Großteil ihres Lebens hindurch gewissenhaft täglich Aufzeichnungen machten und deren „nicht literarisches“ Werk heute in vielen Bänden vorliegt – Thomas Mann oder Arthur Schnitzler sind solche Beispiele, und viele andere mehr.

Die Faszination der Tagebücher ist unumstritten, sowohl für jene, die sie führen, wie für jene, die sie geradezu begierig lesen. Tatsache ist, dass die Schreiber im Allgemeinen vom Faktischen ausgehen und zum Grundsätzlichen kommen. Die Betrachtung des eigenen Lebens (oder das minutiöse Verfolgen eines fremden Lebens durch den Leser) kann geradezu süchtig machen.

Nun ist die Zahl der prominenten Tagebuchschreiber schier unübersichtlich, und man versteht den Versuch von Herausgeber Rainer Wieland, dessen Spezialität Anthologien sind (und der sich schon vor zehn Jahren mit der Materie befasst hat), sich dem Thema in seiner ganzen Fülle zu nähern. Die Frage ist nur – wie? Die Möglichkeiten der Zugänge wären grenzenlos.

Hier wird es nun schlicht und einfach mit dem Datum versucht – das, was der Schreiber üblicherweise an die Spitze seiner Eintragung stellt. Vom 1. Jänner bis zum 31. Dezember – was haben Menschen von Tag zu Tag in ihre Tagebücher notiert? Das widerspricht absichtlich jedem System, das nimmt den Zufall als Generator zu Hilfe. Die einzige logische Abfolge besteht darin, dass innerhalb eines Kalendertages die Eintragungen nach den Jahren ihres Entstehens gereiht sind. Alles andere – Autor, Innalt, Text und Subtext – unterliegt keinerlei Regel. „Bunter“ könnte man das Unternehmen nicht angehen.

Wenn das Buch von Rainer Wieland allerdings mit Samuel Pepys beginnt, hat das gewissermaßen seine höhere Berechtigung: Dieser hohe englische Beamte des 17. Jahrhunderts gilt als Urvater der täglichen persönlichen Chronik, erst, wenn er nachts die Ereignisse des Tages rekapituliert hatte, schien ihm das Werk getan, das er mit „And so to bed“ abschloß. Außer ihm kennt man nur zwei weitere Namen in dem Buch  einzig und allein aufgrund ihrer Tagebücher – das jüdische Mädchen Anne Frank und den jüdischen deutschen Professor Viktor Klemperer. Ohne ihre Tagebuch-Aufzeichnungen wären sie nicht ins allgemeine Bewusstsein eingegangen.

Die Auswahl ist also bunt, man versteht nicht immer alle erwähnten Details, weil man ja nur einen Ausschnitt bekommt (Anmerkungen gibt es keine), und vermutlich wird nicht jeder Leser jede einzelne Eintragung lesen wollen. Aber man findet auf jeden Fall reichlich, was einen interessiert.

Einzelne Tagebuchschreiber kommen überproportial oft vor, neben Samuel Pepys, der manchen Tag einleitet, etwa Tolstoj, Bert Brecht oder (natürlich) Goethe, der auch Banalitäten notierte. Als richtige Entdeckung stellt sich Richard Burton heraus, der Fall eines hoch intelligenten Schauspielers, der mit Ironie zu beobachten wusste und nicht im geringsten oberflächlich war.

Es ist ausgeschlossen, alle „Beteiligten“ an dem Riesenwerk zu nennen, ebenso ausgeschlossen, alle Zugänge zwischen Faktischem und Psychologischem anzuführen, täglicher Ärger und Seelenergüsse, die „letzten Fragen“ oder Banalität des Alltags, wenn Virginia Woolf darüber reflektiert, Fleisch einkaufen zu müssen. Wenn Cesare Pavese über den Tod nachdenkt und die 17jährige Romy Schneider gespannt ist, was das Leben ihr wohl bringen wird. Wenn Andy Warhol bei einem Kinobesuch detailliert die Kosten von Taxis und Karten notiert und dann zugibt, Bunuel nicht verstanden zu haben.

Über Langsamkeit und Langeweile des Lebens klagt so mancher, sich über Glück den Kopf zu zerbrechen, gehört zum Leben. Man erlebt Sexszenen, nicht ohne Prahlerei, nicht ohne Obszönität (Doderer), die junge Alma Schindler versteht sich selbst nicht und will sich umbringen (dabei hat das Leben, wie wir wissen, noch so viel mit ihr vor), Stendhal vermerkt, dass die Bevölkerung von Paris bei der Geburt von Napoleons Sohn begeistert klatscht, und Jochen Klepper geht in den Tod. Thomas Mann pflegt seine Krankheiten, Cosima Wagner umkreist das Befinden ihres Mannes und Joseph Goebbels kann für sein Entzücken über Adolf Hitler gar nicht genug enthusiastische Worte  finden. Arthur Schnitzler reflektiert über den Ersten Weltkrieg und die ihm unverständliche Begeisterung seiner Umwelt, und Noel Coward spricht von der Schwierigkeit, Marlene Dietrich den „Cockney“-Akzent beizubringen… Alles drin.

Mehr als 180 Autoren aus einem halben Jahrtausend sind es geworden, gibt der Herasugeber an (und man kann sich die Heidenarbeit vorstellen, der er sich bei Lektüre und Auswahl unterzogen hat). Und gerade, weil man von Eintragung zu Eintragung (sie sind im allgemeinen nicht lang) von einer Welt in die andere purzelt, ist die Lektüre so besonders anregend. Am Ende gibt es dann ein Who is Who der Beteiligten (weil doch dieser oder jener dabei ist, den man nicht kennt), allerdings wird über die Lebensdaten hinaus nichts Biographisches, sondern vor allem die Funktion des Tagebuchs im Leben der / des Betreffenden untersucht.

Natürlich kann man Tagebücher in alle Richtungen analysieren. Man kann sie aber auch für sich selbst sprechen lassen – dann entfaltet sich ein Mosaik, das möglicherweise in großen Umrissen ein großes Bild gibt. Oder man empfindet es als abstraktes Gemälde. Aber unterhaltsam ist die Lektüre, wo immer man hineinblättert.

Es ist also ein Buch der Momentaufnahmen, der oft witzigen Ereignisse, Streiflichter auf dies und das, im Alltag, auf Reisen, vor allem aber ist es ein Buch der Gedanken, die verschiedene Menschen sich über „Gott und die Welt“, wie man so schön sagt, machten. Der Verlag wirbt mit der Charakteristik „Das perfekte Geschenk für alle Liebhaber besonderer Bücher“ – und genau das ist es.

Renate Wagner

 

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