Dresden / Semperoper: 12. SYMPHONIEKONZERT DER SÄCHSISCHEN STAATSKAPELLE MIT ANDRIS NELSONS AM PULT–9. 7. 2013
Andris Nelsons. Foto: Marco Borggreve
Lettland, dieses kleine Land mit seinen ca. 2 Mill. Einwohnern (2011) – im Vergleich dazu leben im Großraum Wien ca. 2,4 Millionen Einwohner! – bringt immer wieder großartige Musiker hervor, zu denen unbedingt auch der junge Dirigent Andris Nelsons, einer der gefragtesten Dirigenten der internationalen Musikszene, u. a. bei den Berliner und Wiener Philharmonikern, beim Concertgebouw Orchestra Amsterdam, beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks sowie bei den Londoner und New Yorker Orchestern, gehört. Spätestens seit seinem umjubelten Konzert bei den diesjährigen Dresdner Musikfestspielen mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra steht er auch in Dresden ganz oben in der Gunst des Publikums. Mit der Saison 2014/2015 wird er in der Nachfolge von James Levine die Position des Chefdirigenten beim Boston Symphony Orchestra, einem der amerikanischen „Big Five“, übernehmen.
Beim 12. Symphoniekonzert gab er nun sein lange erwartetes Debüt am Pult der Sächsischen Staatskapelle Dresden mit der „Symphonie C Dur“ (Hob. I:90) von Joseph Haydn und der „Symphonie Nr. 5 d-Moll“ (op. 47) von Dmitri Schostakowitsch. Unter seinen eleganten, äußerst geschmeidigen, fast tänzerischen Bewegungen lief das Orchester noch einmal vor den verdienten Sommerferien zur Höchstform auf.
Nelsons hatte zwei Werke gewählt, wie sie gegensätzlicher nicht sein können, und doch eine gewisse Verbindung aufweisen. Während Schostakowitsch ein „doppelbödiges, abgründiges Werk“ schuf, das er offiziell als „schöpferische Antwort auf eine berechtigte Kritik“ bezeichnete, bei dem aber nach gewaltigen Klangballungen, die äußeren Druck und Bedrohung zum Ausdruck bringen, im Verborgenen immer wieder Anklage und Trauer anklingen, komponierte der von ihm hoch verehrte Joseph Haydn, dessen Lebensumstände ungleich glücklicher waren, ebenfalls ein hintersinniges Werk, aber von ganz anderer Art.
Bei Haydn spricht nicht selten der Schalk aus der Partitur. In seiner wohlwollenden, humorvollen Artbrachte er den Zuhörern Freude auf die ihm ganz eigene Weise. Der letzte Satz der Symphonie endet zunächst vorzeitig mit einem „Scheinschluss“, was einige Zuhörer, die nicht ahnten, dass Haydn mit seinem verschmitzten Humor noch eine Überraschung in petto hatte, zu zaghaftem Beifall animierte, um dann endgültig nach einer Generalpause von 4 Takten mit dem „echten“ Schluss zu enden.
Nelsons vermochte dieser – vielleicht gerade wegen dieses irritierenden Schlusses – nicht sehr oft gespielten, aber doch bekannten, Symphonieviel Klangschönheit abzugewinnen. Trotz der Größe des Orchesters war fast jedes Instrument bzw. Instrumentengruppe im ausgewogenen Gesamtgefüge deutlich zu vernehmen. Besonders angenehm fielen Flöte, Fagott, Oboe und auch die Hörner in ihren kleinen solistischen Passagen auf. Sehr gut fügte sich auch die Pauke ein. Es war ein Haydn, wie man ihn kennt und liebt, und doch um einige Klangfarben und – sonst oft sorglos „überspielte“ – Details reicher. Wenn auch vielleicht aus sehr persönlicher Sicht des Dirigenten, verfehlte die Musik Haydns ihre Wirkung nicht, sie verträgt durchaus kleine, ehrlich gemeinte, Abweichungen vom Üblichen.
Ganz im Gegensatz dazu steht Schostakowitschs 5. Symphonie. Nelsons konzentrierte sich verständlicherweise auf dieses Hauptwerk des Abends. Mit großem Orchester, einem Konzertflügel, nicht als Soloinstrument, sondern integriert in den Orchesterklang, begann das Werk sehr verhalten und getragen, mit wehmütigen Klängen, die unter die Haut gingen. Sie verraten viel an doppelbödiger Kritik, devot reumütig nach außen aus berechtigter Furcht vor Repressalien und zugleich unsagbar traurig nach innen. Ganz durchdrungen vondem genialen Dirigat Nelsons‘ und mitgetragen vom Orchester, wurde eine geistige Welt eröffnet, wie sie eindringlicher und klarer nicht sein könnte.
Ausgefeilt bis ins letzte Detail, in fließenden Übergängen zwischen den Extremen von mächtigen Klangballungen im Fortissimo, die die derbe Bedrohung mit dem „Aufruhr aller Instrumente“ vergegenwärtigt, dem Überschwang der aufgeregten, angstvollen Gefühle und doch wieder Hoffnung, dass die Seele dennoch Frieden finden könnte, im feinstem Pianissimo“. Nelsons gestaltete die Symphonie als großangelegte symbolträchtige Klangsprache, die die verzweifelten Seelenzustände eines zu Unrecht gemaßregelten Komponisten wiederspiegelt. Zuweilen klangen scheinbar unbeschwerte, fröhliche und dennoch verzerrte volkstümliche, tänzerische Melodien an (vergleichbar Gustav Mahler), bei denen aber dann der Glaube daran fehlt, weil die Seele bis ins Innerste verwundet ist.
Sehr feine Streicher, die, den letzten Ton lange, immer leiser werdend, aushalten, bis er kaum noch zu hören ist und leise verhallt und dann vom Klavier aufgenommen wird und ein zartes Violinsolo standen im scharfen Kontrast zu den immer wieder harten, motorischen Paukenschlägen, unterstrichen vom massiven Klang der Becken, mit denen die Symphonie schließlich auch endet. Sie spiegelten voller innerer und äußerer Spannung folgerichtig und in logischer Folge Schostakowitschs Seelenzustände zwischen massiver Bedrohung und Hoffnung, die zuletzt stirbt, wieder.
Es war eine grandiose Wiedergabe mit allen, den der Kapelle eigenen Feinheiten bis zum Äußersten, trotz massiver Klangballungen mit außergewöhnlicher Klarheit und Durchsichtigkeit – Bravo!
Hier wurde einmal mehr sehr deutlich, wie wichtig ein Dirigent als geistiger und musikalischer „Vater“ für das Orchester ist (auch wenn er noch relativ jung ist). Das sollte immer so sein!
Ingrid Gerk