Dresden/Frauenkirche: „WEIHNACHTSORATORIUM“ – KANTATEN I-VI – 9.12. 2013
Es gibt nur wenige Werke der musikalischen Weltliteratur, die sich so großer Popularität erfreuen wie J. S. Bachs „Weihnachtsoratorium“. So oft es aufgeführt wird, drängen die Menschen in die Kirchen und Konzertsäle. Für viele Besucher aus ganz Deutschland und auch Europa gehört es nun schon zur Tradition, jedes Jahr im Dezember nach Dresden zu kommen, um ein Konzert – möglichst das „Weihnachtsoratorium“ – in der Frauenkirche zu erleben, und so bildeten sich auch an diesem Wochenende lange Schlangen vor dem Kuppelbau, um eine Aufführung zu erleben.
Frauenkirchenkantor Matthias Grünert führt jeweils alle 6 Kantaten, die ursprünglich in 6 Gottesdiensten zwischen dem ersten Weihnachtsfeiertag (1734) und dem Epiphaniasfest (6.1.1735) in der Leipziger Nikolaikirche und Thomaskirche aufgeführt wurden, an einem Abend auf – was auch schon zur Tradition geworden ist. Die Aufführungsdauer beträgt dann je Abend 3 Std. (mit einer Pause) – aber Wagneropern dauern länger, es ist also nur ungewohnt. Viele Menschen mögen nur die ersten 3 Kantaten. Die Kantaten IV – VI, erfreuen sich weder nach, noch vor Weihnachten solcher Besucherresonanz wie die ersten drei, sind aber mit ihren dramatischen Chören gerade die besonders eindrucksvollen Teile, die die ersten drei Kantaten, sozusagen im „Nachklang“, noch intensiver erschließen.
Um möglichst vielen Besuchern die Möglichkeit einer Aufführung zu bieten, wurde dieses „Mammutprogramm“ jeweils an 3 Abenden aufgeführt (6., 7. und 9.12.). Wohl auch aus Platzgründen – bei einem größeren Chor, wie dem Projektchor der Frauenkirche, hätten die ersten Bankreihen entfernt werden müssen, was die Besucherzahl stark eingeschränkt hätte – aber vor allem wohl wegen seiner hohen Gesangskultur hatte sich Grünert für den Kammerchor der Frauenkirche entschieden. Statt gewohnter großer „Volkschöre“ gab es hier nur einen kammermusikalischen, aber leistungsfähigen Chor, auch in den „Volksszenen“, denen der Kammerchor durchaus gerecht wurde. Statt musikalischer „Wucht“ überzeugte hier die „Durchsichtigkeit“ und Klangschönheit, die vor allem auch in den Chorälen zur Wirkung kam – ganz besonders in dem Choral „Ich will dich mit Fleiß bewahren“ und dem innig gesungenen „Ich steh an deiner Krippen hier“.
Dem Kammerchor entsprach auch das relativ kleine ensemble frauenkirche als (Kammer‑)Orchester. Beide sind eine „eingeschworene“ Aufführungsgemeinschaft, die in perfektem Zusammenwirken von Solisten, Chor, Soloinstrumenten und Orchester auch bei dieser Aufführung immer wieder beeindruckte, vor allem in der, von Ute Selbig mit ihrer schönen, ausdrucksvollen Stimme und immer dem Werke entsprechender Gestaltung so eindrucksvoll gesungenen „Echo-Arie“, wie sie in dieser idealen Abstimmung von feinfühlig mitgestaltender Solo-Oboe, Orchester und „Echo“ (Frauenstimme aus dem Chor) wohl nur äußerst selten zu erleben ist.
Desgleichen beeindruckten auch die Solo-Flöte bei der Tenor-Arie, die sehr gute Solo-Violine bei der Alt-Arie, die beiden korrespondierenden Solo-Violinen bei der Arie „Ich will nur dir zu Ehren leben“ und die Harmonie zwischen Solovioline, Sopran, Alt und Tenor in „Ach, wann wird die Zeit erscheinen?“.
Zur festlichen Eröffnung der 1. Kantate gab es zwar viel „(Tusch) und Lärmen“ bei der Pauke, wie es bei einer Weihnachtsmusik im 17. Jh. hieß, aber später wurde die Pauke ihrer Aufgabe als Orchesterklang unterstreichendes Instrument in entsprechendem Maße gerecht, und Trompete und Horn sorgten für festlichen Glanz.
Mit Ute Selbig (Sopran), Anna Haase (Alt), Eric Stockloßa (Tenor) und Andreas Scheibner (Bass) standen sehr stilsichere, im Oratoriengesang und seiner Gestaltung erfahrene, Solisten zur Verfügung, die sich die zu interpretierenden Werke auch inhaltlich angelegen sein lassen.
Ute Selbig, wie immer – gut bei Stimme, beeindruckte mit intensiver, immer einfühlsamer Gestaltung und entsprechendem Stilempfinden. Anna Haase, ebenfalls mit Barockstil und Oratoriengesang vertraut, fügte sich gut in das Ensemble ein. Andreas Scheibner verfügt über sehr gute Technik und Fähigkeiten einer intensiven Gestaltung. Er sang die gefürchtete Arie „Erleucht auch meine finstren Sinnen“ scheinbar mühelos und ohne jede „Brüche“.
Die Überraschung des Abends war der, für Markus Brutscher eingesprungene, Eric Stockloßa, der mit sehr ansprechender, unverbrauchter Stimme, auch die Rezitative in allen Details, mit sehr deutlicher Artikulation und entsprechendem Ausdruck klar und klangschön sang und sich, einschließlich der sehr gut gesungenen Tenor-Arien, vom Anfang bis zum eindrucksvollen Schluss der Aufführung immer mehr zu intensiver Wiedergabe steigerte. Er verfügt über einen natürlich wirkenden, angenehm timbrierten Tenor mit sehr guter Höhe und Intonationssicherheit – ein Evangelist, dessen Erzählung der Weihnachtsgeschichte bis zur letzten Kantate immer spannend blieb.
Matthias Grünert leitete mit Vehemenz und Hingabe den Aufführungsapparat, nahm den Eingangschor sehr schnell, um nicht zu sagen übereilt, wobei der Kammerchor keineswegs an Klarheit verlor, und den Eingangschor der 3. Kantate „Herrscher des Himmels“ in einem Tempo, das diesen Chor besonders gut zur Geltung kommen ließ. Er ließ die „Sinfonia“ zu Beginn der 2. Kantate klangvoll ausmusizieren (was andernorts leider oft vernachlässigt wird) und den Choral „Wir singen dir mit Herz und Mund“ sehr getragen ausführen, möglicherweise als Kontrastwirkung, um Spannung in die Aufführung zu bringen.
Mit dem festlichen Choral „Nun seid ihr wohl gerochen an eurer Feinde Schar“ ging eine eindrucksvolle, trompetenüberglänzte Aufführung des „Weihnachtsoratorium“ in ungewohnter Länge (aber nie langweilig) zu Ende.
Ingrid Gerk