
Gaelle ARQUEZ die umwerfend attraktive CARMEN schwimmt nicht nur gut, singen kann sie auch (Foto C Foster)
BREGENZ Festspiele/Seebühne
CARMEN von Georges Bizet
Premiere 19.Juli 2018 Von Manfred A. Schmid OnlineMERKER
Intensives Kammerspiel im Kosmos der Karten am See
Einhellig bewundert, geradezu in den Himmel gelobt wurde im Vorjahr bei der Bregenzer Premiere der Neuproduktion von Georges Bizets Carmen das einzigartige, grandiose Bühnenbild mit den durch die Luft wirbelnden Karten und den hochgestreckten Händen. In der Tat bietet das Setting der in der Ausstattung spektakulärer Events weltweit erprobten Designerin Es Devlin auch heuer wieder ein eindrucksvolles, sich stets wandelndes Ambiente für eine fesselnde, in einer unausweichlich erscheinenden Katastrophe endende Lovestory. Aber das Bühnenbild ist weit mehr als nur Hintergrund der Handlung, denn es bietet auch grandiose Spielflächen, die geschickt genutzt werden, und gibt durch Farbwechsel und abwechslungsreiche Projektionen immer auch gerade die Stimmungen wider, die vom dramatischen, von Liebe, Tod und Leidenschaft geprägten Geschehen in geradezu atemloser Abfolge evoziert werden. Durch Kürzungen – vor allem in den Dialogen – auf zwei Stunden ohne Pause eingedampft, hält diese Inszenierung das Publikum unablässig in ihrem Bann.
Auf der Bregenzer Seebühne ist der See bekanntlich ein wichtiger Mitspieler; das gilt im vorliegenden Fall auch für das Bühnenbild – sowie für das prachtvolle Sommerwetter, das diese wunderbare Naturkulisse diesmal – nach dem total durchnässten Eröffnungsabend im Vorjahr – erst so richtig zur Wirkung kommen lässt. Das Wasser bleibt das bestimmende Element dieses Abends, und so es gibt neben einem Feuerwerk, das den pompösen Auftritt des Toreros in der Stierkamfparena markiert, auch ein munter choreographiertes Wasserballett. Immer wieder wird durch geschicktes Absenken der Bühne das Wasser in die Handlung mit einbezogen: Mal stehen die Protagonisten knöcheltief darin, Carmen rettet sich durch einen Hechtsprung in den See und krault ihren Häschern davon. Am Schluss findet die freiheitsliebende, kompromisslose Heldin darin auch ihr Ende: Sie wird von ihrem eifersüchtigen, seelisch tödlich verwundeten (Ex-)Lover ertränkt.
Die Technik, die in Bregenz zum Einsatz kommt – dazu gehört auch die perfekte Tonqualität – ist mustergültig. Die Bedenken, dass bei einem so überwältigenden Aufwand technischer Natur und angesichts der Monumentalität der Bühne die Akteure wie verloren wirken könnten, haben sich nicht bewahrheitet. Die einfühlsame und psychologisch fein abgestimmte Personenführung des für die Inszenierung verantwortlich zeichnenden Kaspar Holten sorgt, unterstützt durch die farblich gut abgestimmten Kostüme (Anja Vang Kragh), stets für Klarheit und Überblick.
Wie sorgfältig die Regie dabei vorgeht, sei an vier Beispielen illustriert: Carmen beobachtet aus der Ferne die zärtliche Begegnung zwischen José und Micaela und klatscht, als diese sich küssen, spöttisch Beifall: Sie fühlt sich offenkundig durch die zur Schau gestellte Ehrlichkeit der Gefühle herausgefordert und beschließt wohl in diesem Augenblick, dass sie sich dazwischen stellen werde. Als José auf Geheiß seines Vorgesetzten Carmen gefangen nehmen muss, führt er sie zunächst an der langen Leine. Wie beim Longieren eines wilden Fohlens versucht er sie zu zähmen und zu bestimmten genormten Verhaltensweisen zu zwingen. Doch sogleich kehrt sie das Verhältnis um, und es ist eindeutig er, der schließlich von ihr gegängelt wird. Als Micaela in das Lager der Schmuggler vordringt, um José aus dem Verderben zu retten, singt sie, hoch oben in der (Karten-)Hand positioniert (in dieser Inszenierung sind in den Hauptpartien neben stimmlichen und darstellerischen Fähigkeiten eben auch Schwindelfreiheit und Schwimmen gefragt!), ihre Arie „Je dis que rien ne m´épouvante“ (Ich hab gesagt, dass mir nichts Angst macht). Wie zum Beweis für diese Behauptung klettert sie dann im Anschluss wagemutig über die (Karten-)Klippen und lässt sich schließlich nach unten abseilen. Die Botschaft ist klar: Für ihren Geliebten würde sie sogar ihr Leben riskieren. Im Kontrast dazu steht Carmen, die ihr Leben einzig und allein für ihre Freiheit zu geben bereit ist. Und das erschreckend brutale Finale wird von Holten dadurch vorbereitet, dass José schon zuvor einmal gegenüber Carmen tätlich wird, sie schlägt und zu Boden wirft: Dieser Mann hat sich nicht unter Kontrolle. Ihm ist – bis hin zum Mord – alles zuzutrauen.

Seefestspiele wörtlich genommen (Foto C Foster)
Die vier zentralen Partien der Oper sind in der diesjährigen Premiere mit Kräften besetzt, die auch schon im Vorjahr zum Einsatz gekommen sind. Unbestritten im Mittelpunkt steht – wie schon damals – Gaelle Arquez in der Titelpartie. Ihr facettenreicher, fein nuancierender Mezzosopran bringt jene Mischung aus ungezähmter Leidenschaft, feurigem Temperament und bedingungsloser Freiheitsliebe, die für Carmen bestimmend ist, zum Leuchten und verstrahlt auch genügend erotische Anziehungskraft. Sie ist mit physischem Totaleinsatz bei der Sache und kommt – bewundernswert – bei ihren waghalsigen Aktionen ohne Stuntwoman aus.
Cristina Pasaroiu als Micaela ist nicht, wie üblich, das naive, liebe Dummchen vom Land, sondern –aller aufopferungswilliger Liebesbereitschaft zum Trotz – eine selbstbewusste junge Frau, die für das, was ihr wichtig ist, zu kämpfen und alles und geben bereit ist. Ihre von Wärme durchflutete Sopranstimme zeichnet ein bezwingendes Porträt dieser Kontrastfigur zur souveränen und stets auf sich und ihre Bedürfnisse konzentrierten Gegenspielerin.
Einen José mit Ecken und Kanten stellt der Tenor Daniel Johansson auf die Bühne. Von Anfang an lässt er keine Zweifel daran aufkommen, dass seine Figur wohl eine zwiespältige Vergangenheit haben dürfte und in ihrem Inneren unbewältigte Konflikte verbirgt. Stimmlich energische Ausbrüche und innige Liebesbeteuerungen unterstreichen eine komplexe psychische Verfassung mit latentem Gefahrenpotenzial.
Lässiges Selbstbewusstsein als Escamillo verstrahlt Kostas Smoriginas bei seinen Auftritten. Er lässt den erfolgsverwöhnten, siegessicheren Macho „heraushängen“. Als Torero (Toreador) hat er ein untrügliches Gespür für die Verfasstheit seiner Gegenüber, sei es Carmen oder José. Seine jeweilige Strategie und sein taktisches Vorgehen sind stets wohl dosiert und kalkuliert. Der Tod ist für ihn ein Berufsrisiko. Mehr nicht.
Die übrigen Partien sind durchwegs homogen und rollendeckend besetzt, mehr als zufriedenstellend die Chöre. Antonino Fogliani sorgt als musikalischer Leiter für einen zügigen Ablauf ohne breit zelebrierte Übergänge. Der Beifall klingt begeistert, aber auch bald enden wollend. Die Busse vor den Toren warten schon.
Manfred A. Schmid – OnlineMERKER