Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

BREGENZ: ANDRÉ CHENIER . "Das Parfüm der Revolution"

08.08.2012 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

Bregenz: Das Parfüm der Revolution. Wiederaufnahme von „André Chénier“ auf der Bregenzer Seebühne (Vorstellung vom 7.8.)
Von Simone Richter


Foto: Bregenzer Festspiele

Ein Riese auf Wellnessurlaub? Unter dem blauen Tuch, das seinen Kopf bedeckt, scheint der Atem ruhig und gleichmäßig zu fließen. Kaum zwei Stunden später wird er mit schwarzen Lippen und toten Augen im Wasser liegen, die Haut über und über bedeckt mit Leichenflecken, die Stirn durchdrungen von Stacheln, die an eine Dornenkrone erinnern. Das imposante Bühnenbild der Bregenzer Festspiele und seine Verwandlungen sind nur ein Teil der spektakulären Inszenierung von Keith Warner. Umberto Giordanos Oper „André Chénier“ auf der Seebühne ist weit mehr als ein dynamisches Drama mit geschichtlichem Hintergrund; vor allem wird ein sehr genauer Blick auf den Menschen, sein Verhalten und sein Innenleben geworfen.

Der Tod ist allgegenwärtig. Unauffällig wartet er in seiner Barke, während Hunderte von Zuschauern sich platzieren. Seine Sense agiert als Taktstock und hebt zum ersten Paukenschlag. Später wird es sich der  Bleiche im schwarzen Kapuzenmantel auf hellblauem Möbel bequem machen und dabei zusehen,
wie sich die Adligen im märchenhaften Rausch betuen. Er wird sich heimlich daran belustigen, wenn  sich die burschikosen Mützenträger erst mit den fluffigen Perückenträgern vermengen und dann zur Revolte blasen.
Nur beinahe unbeteiligt wird er sich geben, wenn inmitten dieser Art Walpurgisnacht die Aristokratie entweder kurzerhand im Bodensee entsorgt, plakativ geschändet oder eingekerkert wird. Ja, wenn der Lynchmob seinen Zorn entlädt, ist Gevatterchen gerne anwesend. Er will und wird stets hoch über allem thronen – wenn sich die Jakobiner ihren Platz in der Geschichte erkämpfen, ihr eigenes Volk meucheln oder das  Tribunal tagt – auf einem Scheiterhaufen aus Büchern. Nicht allein für ihn duftet das Parfum der Revolution so verführerisch…

Diese Oper, uraufgeführt 1896 in der Mailänder Scala, basiert auf wahren Begebenheiten: Im Mittelpunkt der Dichter André Chénier, der sich während der Französischen Revolution gegen die Willkür einer Bürgerpartei stellt und aufgrund seiner kämpferischen Verse angeklagt wird. Sein Mut bringt ihn unter die Guillotine, wo ihm – so die gültige Formel – der Kopf zurecht gerückt wird. Mit 31 Jahren opfert sich der Dichter im Einsatz für eine gerechte Gesellschaftsordnung. Und wird zum Urbild des freien Denkers und Regimekritikers, der die Radikalen verurteilte und Partei ergriff für die gemäßigten Revolutionäre.

Für den Komponisten Giordano und den Librettisten Luigi Illica aufregender Stoff genug, um den empfindsamen melancholischen Stil der Poetik in ein musikalisches Werk zu giessen, bei dem alle Figuren dem Schicksal wie an unsichtbaren Fäden ausgeliefert sind. Zwischen wehmütigen Versen, opulenten Duetten und fließendem Melos enthält die Oper alles, was es für ein Historienspektakel braucht: glühendes Liebesdrama, packenden Krimi, die Vereinigung der Hauptcharaktere am Ende – gewiss: im Tod.

In Bregenz gelingt eine effektvolle, theatralische Umsetzung vor allem durch die Darstellung der Gegensätze. Hier: pompöse Adelswelten inklusive atemberaubender Tanzshow mit pinken Tüll-Unterröcken in luftigen Höhen, Dekadenz, die sich in Akrobatikeinlagen präsentiert und wallende Maßlosigkeit der Reichen in jedem Detail. Aussagen wie „Das Lesen hat ihn verdorben!“ oder „Sie fürchten Gott nicht mehr!“ künden nicht nur von Unheil, sondern bieten zwischen den Zeilen eine gewisse Tiefe.
Und dort: der von Hunger und Armut getriebene Hass der Masse, der in Gewalt kanalisierte Wille des Volkes und bis an die Existenzgrenze getriebene Mütter, die Ehemänner und Söhne der Revolution zum Fraß vorwerfen und die Enkel gleich noch hinterher. Wie hoch ist der Preis für Liberté, Égalité und Fraternité?
Plus: die intellektuellen Charaktere, die das alles hinterfragen, der Schreckensherrschaft eines Robbespierre trotzen und mit der Dichtkunst als Waffe für den Drang zur echten Freiheit zwar mit dem Leben bezahlen, ihren Glauben an die Liebe zwischen Blut und Schmutz jedoch nicht einbüßen.

Dass sich das alles auf einem überdimensionalen Männertorso abspielt, ist ein cleverer Kniff von David Fielding. Inspiration für sein gigantisches, beeindruckendes Bühnenbild war das bekannte Gemälde des Malers Jacques-Louis David mit dem Titel „Der Tod des Marat“ (1793). Es zeigt den Verleger und Journalisten – seines Zeichens einer der radikalsten Führer der Revolution und Befürworter politischer Gewalt – in seinem blutrot gefärbten Badezuber. Erstochen mit einem Küchenmesser. Einen Brief an Charlotte Corday in der Hand – ihres Zeichens Konterrevolutionärin, später gefeierte Märtyrerin und seine Mörderin. Dass Chénier ein Lobgedicht auf sie und ihre Tat verfasste, zeigt sich daran, dass Fielding den Kopf des schlafenden Riesen auf eben diese Versen bettet.

Unter der musikalischen Leitung von Ulf Schirmer werden die packenden Hymnen an Freiheit und Liebe, werden die grandios flammenden Emotionen, werden überschwänglicher Jähzorn und revolutionäre Klänge wuchtig umgesetzt. Die Wiener Symphoniker halten sich gekonnt im Hintergrund, um den hochkarätigen Solisten in ihrer Obsession der Gefühle ausreichend Raum zu geben; bei dramatischen Höhepunkten schiebt sich das Orchester mit Weltruf gekonnt in den Vordergrund. Gewöhnungsbedürftig bleibt dabei die Videoübertragung aus dem Orchestergraben des Festspielhauses. Von dort wird das Spiel der 56 Musiker per modernstem Soundsystem nach draussen übertragen. Zur Abrundung des Operngenusses braucht es weder den Blick auf den Dirigenten noch den Zoom auf einzelne Orchestermitglieder. Das wirkt eher störend während den erschütternd intensiven und überwältigenden weil leidenschaftlichen Arien. Die schließlich im Tod gipfelnden Einsätze wirken gerade auch durch die Mitwirkung des Bregenzer Festspielchors und des Prager Philharmonischen Chors so virtuos, spannungsgeladen und lebensnah.

Unter den durchaus besonderen Arbeitsbedingungen sowohl der Seebühne als auch der gigantischen Kulisse tragen nicht zuletzt die Solisten zum Gelingen der Aufführung bei: Héctor Sandoval in der Rolle des Chénier überzeugt als jener Dichter, der in den Turbulenzen der Geschichte an seiner Dichtkunst  ankert und dessen sehnsüchtige Stimme nach Gerechtigkeit in der Heimat noch lange nachhallt. Tatiana Serjan als Maddalena muss höchsten Ansprüchen gerecht werden, haben doch sowohl Opern- als auch Filmkenner Maria Callas‘ Interpretation der Arie „La Mamma morta“ im Hinterkopf. Nicht zuletzt der laut tosende Applaus beweist: hier ist eine Sopranistin ersten Ranges am Werk. Die sicherlich dynamischste und emotional wandlungsbezogene Rolle füllt John Lundgren aus – erst als Diener der Herrschaft, später als Revolutionsführer und Ankläger, immer aber als verschmähter Liebender wirkt er kraftvoll und verletzlich gleichermaßen. Insgesamt brillieren die Mitwirkenden durch eine durchweg überzeugende musikalische Leistung.

Mal gelb glühende Augen, mal eine grüne Bestie, die an „Hulk“ erinnert, mal ein seelenloser, geschundener Körper mit aufgeschlitzter Kehle: Der Marat ist eine dreidimensionale Skulptur mit gewaltiger Interpretationskraft. „Ich hielt mich für einen Riesen“, wird der Revolutionsführer Gérard singen und seine Worte haben Strahlkraft. Die blutige Propaganda tropft in den Bodensee und reißt Leben um Leben mit sich. Wie aktuell der Bezug zwischen Seebühnenproduktion und Realität ist!: Entrechtung, Unterdrückung und Terror haben mehr denn je ihren Platz. Wenn Intendant David Pountney von verlorenen, vergessenen oder verratenen Idealen spricht, darf, muss und sollte das durchaus ein Fingerzeig sein. Wo Menschen das aussprechen, was anderen unbequem ist, wo sich unermüdlich die Spirale der Gewalt dreht und wo Elend und Unrecht herrschen, hat das Thema nichts an Brisanz verloren.

Die emotional aufwühlenden Bilder des 18. Jahrhunderts – wirken sie im 21. Jahrhundert etwa mobilisierend? Hat Musiktheater den Anspruch, neben Unterhaltung und Vergnügen vor unvergesslicher Kulisse zur politischen Meinungsbildung und im Idealfall sogar zu Handlungsbereitschaft beizutragen? Folgt dem Opernbesuch der Aufschrei gegen die Unrechtssysteme der Welt? Schafft diese Kunst ein besonderes Bewusstsein für gegenwärtige Gewaltregime und Despotismus? Vielleicht eine berechtigte Anschluss-Diskussion, ob mit oder ohne Proseccoglas in der einen Hand und hübschem Fächer in der anderen.

 

 

Diese Seite drucken