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BERLIN/Tipi am Bundeskanzleramt: CABARET von John Kander

Berlin „CABARET“ Tipi am Bundeskanzleramt, 4.7.2013

Ich liebe diese Stadt und sie ist so großartig geschmacklos

Sally Bowles tritt im KitKat Klub auf. Foto: Jan Wirdeier

 Berlin der 30iger Jahre: Flotte Unterhaltung, lasziver Tanz, Ausschweifung und unglückliche Liebesgeschichten im aufkeimenden Nationalsozialismus. Aus diesen Ingredienzien haben Joe Masteroff (Buch), Fritz Ebb (Gesangstexte) und John Kander (Musik) ein hinreißend schnelles tragikomödiantisches Musical zwischen Ragtime und Jazz gezimmert. Die Urberliner Institution „Bar jeder Vernunft“ hat sich mit großem Erfolg dieses Broadway Hits aus dem Jahr 1966 angenommen. Das Tipi am Bundeskanzleramt präsentiert nun im Sommer 2013 in wechselnden Besetzungen die nach wie vor sehenswerte Inszenierung des Madonna-Choreografen Vincent Paterson aus dem Jahr 2004. Und bietet beste Unterhaltung für laue Sommerabende. Freilich gewürzt mit einem gehörigen Schuss vor dem Bug zu Rassismus und Antisemitismus. Dem Regisseur Vincent Paterson gelingt der heikle Grat zwischen Revue, Künstlerdrama rund um den amerikanischen Schriftsteller Cliff Bradshaw in einem politisch dunkler und dunkler werdenden Deutschland eindrucksvoll. Das Musical wurde am 20. November 1966 im Broadhurst Theatre in New York City uraufgeführt. Harold Prince produzierte die Inszenierung und führte die Regie; in der Rolle des Master of Ceremonies war Joel Grey, als Fräulein Schneider Lotte Lenya zu sehen.

 Im Zentrum der Geschichte steht im Gegensatz zum Film nicht die englische Sängerin Sally Bowles. Es ist die in ihrer späten Liebe zum jüdischen Obsthändler Schulz und einer verzweifelten Loyalität zu all ihren Nazi-Freunden hin- und hergerissene Zimmerwirtin Schneider. Regina Lemnitz und Peter Kock, zwei Giganten des Theaters, machen als alterndes Liebespaar alleine schon den Abend zu einem Ereignis. Auf einmal wird das von den Songs her nicht gerade aufregende Musical zum Welttheater mit einer universalen humanitären Botschaft. Auch wenn Fräulein Schneider sich der heraufziehenden vergifteten Atmosphäre nicht entziehen kann und ihre Verlobung einseitig auflöst, zeichnet Regina Lemnitz ein enorm differenziertes Porträt einer aus Feigheit und Furcht um die eigene kleine Existenz opportunen Mitläuferin. Viele, die nicht ins Theater gehen, würden zumindest die Stimme von Regina Lemnitz sofort erkennen. Sie ist die berühmte Synchronstimme für Whoppi Goldberg, aber auch für andere Größen des US-Kinos, wie Diane Keaton, Kathy Bates oder Roseanne. Mehr als berührend ist die von Peter Kock exzellent dargestellte Figur des mutig zu seiner Liebe stehenden, den politischen Ereignissen gegenüber aber vollkommen blind und naiv, die Realität verdrängenden Herr Schulz. Für jeden ein Stück Obst als Geschenk parat, steht er am Ende des Stücks mit dem Koffer in der Hand, um die Pension zu verlassen hin auf die andere Seite des Nollendorfplatzes. Eine schallende moralische Ohrfeige, für alle die zurückbleiben wollen oder müssen.

 Für alle, die den Film nicht mehr frisch in Erinnerung haben: Cliff Bradshaw (vom feschen Patrick Stamme schüchtern, begeisterungsfähig und zuletzt kompromisslos charakterstark interpretiert), ein junger amerikanischer Schriftsteller, reist nach Berlin, um dort einen Roman zu schreiben. Durch die Bekanntschaft mit Ernst Ludwig (Romanus Fuhrmann als unsympathischer Mauschler in NS-Attitüde) kommt er in der Pension des ältlichen Fräulein Schneider unter. Cliff lernt den Kit-Kat-Club kennen, wo er die englische Sängerin Sally Bowles trifft (Lucy Scherer, die trotz vollem Einsatz ein wenig verloren in der von großen Vorbildern geprägten Rolle wirkt). Sie ist der Star der Show – und dies nicht nur wegen ihres künstlerischen Talents. Als Sally entlassen wird, nimmt sie Zuflucht in Cliffs Pensionszimmer, und die beiden werden ein Paar. Auch zwei anderen Pensionsbewohnern begegnet, wenn auch spät, das Glück. Herr Schultz nämlich wirbt erfolgreich um Fräulein Schneider. Doch als sich auf der bald folgenden Verlobungsfeier herausstellt, dass Schultz Jude (und der als Gast anwesende Ernst Ludwig Nationalsozialist) ist, kann wird gelöst, Herr Schultz verlässt die Pension. Nach diesem Vorfall möchte Cliff Deutschland verlassen, wohingegen Sally weiter von ihrer großen Karriere in Berlin träumt. Als sie dann das gemeinsame Kind abtreibt, hält den Amerikaner nichts mehr. Die Zurückbleibenden aber sehen einer ungewissen Zukunft entgegen.

 Der Kitt und Angelpunkt jeder Cabaret-Aufführung ist der Conférencier. Oliver Urbansky bringt genügend Biss und Laszivität mit, um die Welt des Traums und der Verführung im kaltgrünen Licht des Geldes, der Bestechlichkeit, der käuflichen Liebe und des politischen Niedergangs nicht absaufen, aber doch stark zittern zu lassen. Anja Karmanski ist das wunderbare Fräulein Kost, den Männern und Matrosen sichtlich zugetan. Ihr Charakter ist eine eindringliche Metapher auf die damaligen ökonomischen Probleme im Deutschland der 30-er Jahre. Das Land war bankrott mit galoppierender Inflation und hoher Arbeitslosigkeit. So trägt das Fräulein Kost, an sich eine Komödiantin des Lebens, ein durchaus tragisches Schicksal, da sie keine andere Wahl hat zu überleben, als ihren Körper zu verkaufen.

 

Rund um diese Protagonisten bevölkern noch wundervoll freakige Typen wie Michael Chadim (Bobby), Cornelia Waibel (Mausi), Juliane Maria Wolff (Helga), Maika Wüscher (Lulu), Mogens Eggemann (Victor, Frenchie) und Dirk Hinzberg (Max) die karge, aber stücktaugliche Szene (Bühnenbild Momme Röhrbein).

 Ein strammes Quintett sorgt für den erstklassigen musikalischen Teppich der kurzweiligen dreistündigen Aufführung: Daniel Heinzmann am Klavier, Dragan Radosavievich (Geige, Mandoline, singende Säge), Uwe Langer (Posaune), Björn Sickert (Tuba, Komntrabass) und Moritz Wolpert (Schlagzeug). Die musikalische Leitung liegt in den bewährten Händen des Adam Benzwi.

 An alle Sommer Berlin Reisende: Nichts wie hin ins TIPI beim Bundeskanzleramt. Die Atmosphäre ist sowieso vom Feinsten. Am Rande des Tiergartens mit Blick auf das Bundeskanzleramt in der Abenddämmerung mit Aperolspritzer der Aufführung entgegenfiebern. So schön kann das Leben sein….

 Anmerkung: Die berühmtesten Songs aus dem Musical sind: „Willkommen, bienvenue, welcome …“, „Cabaret“, „Two ladies“, „If you could see her through my eyes“, „Heirat“ und „Tomorrow belongs to me“. Die Lieder „Maybe this time“, „Mein Herr“ und „Money, Money“ dagegen wurden nicht für das Musical, sondern erst für die Verfilmung 1972 komponiert. Wegen der großen Bekanntheit dieser Songs werden sie bei Neuaufführungen wie der von mir besuchten eingefügt.

 

Ingobert Waltenberger

 

 

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