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BERLIN/ Staatsopern-Werkstatt: RÉCITATIONS von Georges Aperghis

01.07.2013 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

Modernes Musiktheater in Berlin:„Récitations“ von Georges Aperghis (Vorstellung: 30. 6. 2013)


Uta Buchheister als „Voix seule“ auf der Werkstattbühne der Berliner Staatsoper im Schillertheater (Foto: Stephanie Lehmann)

 In der Werkstatt der Staatsoper im Schillertheater in Berlin fand vom 14. bis 30. Juni 2013 ein Festival für neues Musiktheater mit dem Namen „Infektion!“ statt, bei dem neben Werken von Falk Richter, Helmut Oehring, Toshio Hosokawa und John Cage auch „Récitations“ von Georges Aperghis gezeigt wurde, dessen Uraufführung im Jahr 1982 beim Festival d’Avignon war.

Georges Aperghis, 1945 in Athen geboren, stammt aus einer Künstlerfamilie: seine Mutter war Malerin, sein Vater Bildhauer. Er widmete sich zuerst auch der Malerei, zog aber 1963 nach Paris, wo er die Malerei zugunsten der Musik aufgab und bald instrumentale Kompositionen schuf. Inspiriert von Mauricio Kagel und John Cage wandte er sich avantgardistischen Arbeiten zu und entwickelte eigene experimentelle Musiktheaterstücke. Durch die Gründung der multimedialen Theatergruppe ATEM (L’Atelier Théâtre et Musique) im Jahr 1976 gelangten bis Ende der 90er Jahre rund zwanzig Produktionen zur Aufführung.

 „Récitations“ entstand 1978 und wurde nach der Uraufführung 1982 im Jahr 2001 im Wiener Konzerthaus aufgeführt. Es besteht aus 14 Nummern, die für eine Solostimme geschrieben wurden. Dazu ein Zitat des Komponisten aus dem informativ gestalteten Programmheft : „Die 14 Récitations verlangen der Sängerin sehr viel ab, Sie muss die technischen Schwierigkeiten der Partitur bewältigen und darüber hinaus noch Vergnügen daran finden. Diese Stücke erfordern viel mehr, als nur den detaillierten Instruktionen der Partitur zu folgen. Eigentlich muss die Sängerin zu einer anderen Person werden, während sie die Stücke studiert und aufführt. Die 14 Récitations aufzuführen, ist ein Erlebnis und ein Wagnis. Auch für die Zuhörer.“

 Dieses Wagnis ging die Berliner Staatsoper im Schillertheater ein und ließ es auf der Bühne der Werkstatt von Elisabeth Stöppler inszenieren. Die Regisseurin hatte die Idee, das Publikum in die Aufführung einzubinden, wodurch es zu humorvollen Szenen kam, aber auch eine gewisse Spannung erzeugt wurde. Für die Ausstattung der Werkstatt – lange Bänke ohne Lehnen fürs Publikum und elektrische Installationen an den Wänden als „Spielzeug“ für die Sängerin – sorgte Annika Haller. Für die zum Teil recht kreativen Lichteffekte zeichnete Irene Selka verantwortlich.

 Dass es ein Erlebnis für die Zuhörer wurde, war aber in erster Linie der Mezzosopranistin Uta Buchheister zu verdanken, die ihre Rolle der „Voix seule“ mit enormer Intensität und großer Gedächtnisleistung bewältigte und ohne Scheu das Publikum zum Mitspielen „zwang“. Schon ihr Eintreten in die Werkstatt war mit einem Knalleffekt verbunden: eine Tür fiel krachend in den Raum – und mit ihr die Sängerin in blauem Hosenanzug mit Täschchen. Sie rappelte sich auf, ordnete gewissenhaft ihre Kleidung, wobei die Tür noch einige Male aus ihrer Verankerung zu Boden fiel. Doch die Sängerin schien nichts aus der Ruhe zu bringen, wie man in den nächsten achtzig Minuten noch feststellen konnte.

 Eigentlich bestand ihr Gesang bloß aus Tönen, Lauten, Silben, Wortfetzen in französischer und deutscher Sprache, hin und wieder aus einzelnen Wörtern, die sie oftmals wiederholte.

Dabei stolzierte sie hüftwackelnd durch die Reihen der Zuschauer und begann sich mit den elektrischen Leitungen zu beschäftigen. Es entstand ein Kabelbrand, den sie mit einem Feuerlöscher mühselig bekämpfte, in einer anderen Szene kam sie mit Strom in Berührung, erzitterte und erbebte am ganzen Körper, sie keuchte und grunzte, verschob mehrmals die Bänke in andere Positionen, wodurch auch das Publikum in Bewegung kam. Mal flirtete sie, mal versuchte sie, eine Wand hochzuklettern, mal strangulierte sie sich mit einem Seil. Kurz gesagt: sie war achtzig Minuten lang unterwegs, immer darauf bedacht, nicht die Contenance zu verlieren und rezitierte dabei ihren Text aus Sprachfetzen.

 Inhalt? Vielleicht ist ein Zitat des Komponisten über sein Werk „Récitations“ hilfreich: „Eine freie Assoziationskette kleiner Geschichten, wie unser Geist sie nun einmal hervorbringt.“ Im Programmheft konnte man alle 14 Nummern mitlesen, was allerdings keine große Hilfe bedeutete. Nummer 13 als Beispiel: „Nachahmung charakteristischer Klänge von zwölf verschiedenen Perkussionsinstrumenten (Trommel, Gong, Tom Tom, Bongo, Cymbal, Crotales etc.) / Nahezu pausenlos durchgehende Reihung von Tönen mit teils großen Intervallsprüngen / Zwischenatmen soll unmerklich geschehen: Eindruck eines „Perpetuum mobile“.

 Interessant war, wie unterschiedlich das Publikum auf das Werk ohne Orchester und Musikinstrumente reagierte. Einige schmunzelten über jede effektvolle Szene, eine Besucherin in meinem Blickfeld wirkte total verschreckt, andere lachten herzhaft, manche rutschten nervös auf der harten Bank hin und her, andere wieder blickten teilnahmslos in den Raum oder veränderten pausenlos ihre Sitzposition, ein kleines Mädchen umklammerte ihre Mutter, verfolgte aber mit großen Augen, was alles um sie herum geschah. Am Schluss gab es für die Darstellerin Uta Buchheister frenetischen Beifall und Jubelschreie.

 Udo Pacolt, Wien

 

 

 

 

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