Berlin, Staatsballett: „DUATO | FORSYTHE | GOECKE“, 29.04.2012
Nadja Saidakova und Arshak Ghalumyan beim Forsythe-Pas de deux. Foto Bettina Stöß.
Es geht also doch. Endlich wagt das Staatsballett Berlin einen vollen Abend lang die so genannte Moderne und präsentiert mit „and the sky on that cloudy old day” von Marco Goecke in der Staatsoper im Schillertheater sogar eine Uraufführung. Der dazu gehörigen zeitgenössischen Musik des Amerikaners John Adams verleiht die Staatskapelle Berlin unter Paul Connelly Drive und Spannung.
Ihr hohes Tempo fordert den neun Tänzern bei dieser 1. Aufführung nach der Premiere jedoch viel an Können und Konzentration ab, zumal sie zumeist fest auf dem Boden stehen, als seien sie dort festgeklebt.
Mal kippen sie seitlich aus der Schwerkraft, bewegen ansonsten aber fast nur die Finger, Hände, Arme und Schultern, und diese in enormer Geschwindigkeit. Genau abgezirkelte Gesten sind es und sämtlich hart rhythmisch.
Dadurch wirken die beinahe „beinlosen“ Tänzerinnen und Tänzer oft und sicherlich mit voller Absicht wie Marionetten oder Figuren auf einer Spielzeugdose. Es ist ein Stück mit Anspruch, das uns Goecke, Hauschoreograf am Stuttgarter Ballett, bietet, und die Protagonisten erwecken es mit viel Engagement zum Puppenleben.
Der „Chef“ – Vladimir Malakhov – ist überzeugend mit von der Partie, erlaubt sich aber auch einige, ebenfalls abgezirkelte Tanzschritte. Dennoch sticht absichtlich niemand heraus, sie alle machen mal einzeln, mal in diversen Gruppen, einen perfekten Job.
In alphabetischer Reihenfolge sind es Anissa Bruley, Elisa Carrillo Cabrera, Mikhail Kaniskin, Ibrahim Önal, Haley Schwan, Alexander Shpak, Dinu Tamazlacaru und Xenia Wiest. Und sie können nichts dafür, dass diesen starren Bewegungsmustern im Laufe der reichlich 20-minütigen Darbietung allmählich der Aha-Effekt abhanden kommt.
„In meinen Stücken zeigt sich der Wunsch, den Körper größer zu machen. Den Körper so zu verstellen, dass er nicht nur das alltägliche Gefängnis bedeutet,“ so Goecke. Doch gerade diese Fixierung auf den Oberkörper mit den nervösen, oft auch in die Luft greifenden Händen konterkariert diese Absicht und sperrt die Tänzer Ganzkörperkünstler ein.
Packender und erstaunlich frisch wirken dagegen zwei Werke der klassischen Moderne. Leider kommt die Musik zu beiden Stücken vom Tonträger, sprich aus der Dose. Muss das sein?
Abgesehen davon imponiert William Forsythes „HERMANN SCHMERMAN“ von 1992 (Musik Thom Willems) noch immer mit Einfallsreichtum und einem dezidierten Humor. Die Tänzerinnen und Tänzer schlendern auf die Bühne, als gingen sie zum Training oder zur Probe.
Aber dann geht’s los, und sie zeigen das ganze Repertoire ihres großartigen Könnens. Allen voran – und leider letztmalig im Engagement des Staatsballetts – die bisherige Primaballerina Polina Semionova. Doch selbst sie ist hier eine unter den anderen, teilt sich die Bretter mit Shoko Nakamura, Krasina Pavlova, Rainer Krenstetter und dem äußerst talentierten Dinu Tamazlacaru, der kürzlich – zusammen mit Vladimir Malakhov und Iana Salenko –
den „St. Petersburg International Ballet Award DANCE OPEN“ erhalten hat. Dinu vereint auch an diesem Abend Perfektion, Übermut und Ausdruck auf besondere Weise.
Zwei fallen noch mehr aus dem Rahmen und lassen uns den Atem anhalten: Nadja Saidakova und Arshak Ghalumyan. Sie tanzen in fabelhafter Weise den berühmten Pas de deux des Stückes, diese moderne Version von Partnerschaft zweier selbstbewusster Menschen, die zwischen Zu- und Abneigung schwanken.
Da sagt die unglaubliche biegsame Saidakova schon mal „Tschüss“ und wird doch wieder eingefangen. Dann wendet er sich ab, und doch finden sie erneut zusammen. Wie’s letztlich ausgeht, bleibt offen. Es wird der Höhepunkt des Abends.
Die größte poetische Dichte bringt jedoch „ARCANGELO“, nicht zuletzt wegen der Musik von Arcangelo Corelli und Alessandro Scarlatti. Der spanische Choreograf Nacho Duato hat sich die ruhigen Passagen herausgesucht. Das Ergebnis ist barocke Romantik mit dem Leitthema Himmel und Hölle.
Wenn man den vier Paaren zuschaut, dem Miteinander ihrer Körper, könnte es auch Liebe und Tod heißen. Sie kreisen um drei angedeutete Löcher im Bühnenboden, und zumeist sind es die Frauen, die diesen Abgründen zustreben und von ihren Partnern zurückgehalten werden. Manchmal ist es auch umgekehrt. Größte Zuneigung paart sich mit dem Wissen um die Endlichkeit von Liebe, Jugend und Schönheit. Wunderbar wird das Werk, das Duato bereits 2000 für die Compañía Nacional de Danza geschaffen hatte, dargeboten und berührt in seiner tragischen Sanftheit.
Die vier Paare bilden Shoko Nakamura mit Mikhail Kaniskin, Elisa Carrillo Cabrera mit Arshak Ghalumyan, Polina Semionova mit Michael Banzhaf (beide besonders stimmig) und Sarah Mestrovic mit Leonard Jakovina.
Dass zuletzt jedoch Shoko Nakamura mit Mikhail Kaniskin an und in einem Vorhangschal himmelwärts gezogen werden, während die drei anderen Paare neben den Höllenlöchern offenbar tot am Boden liegen, hat leider eine entbehrliche Kitsch-Komponente.
Insgesamt wird es ein intensiv bejubelter Abend mit einigen Bravos, insbesondere für Polina Semionova und Dinu Tamazlacaru. Bitte mehr davon! Ursula Wiegand
Weitere Aufführungen: 01., 04., 05., 17., 19.05. und 02.06.2012.