Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

BERLIN/ Kraftwerk: LOVER – Musiktheater für gemischten Chor und Schlaginstrumente von Christian Jost

06.04.2014 | Allgemein, KRITIKEN, Oper

Berlin/ Kraftwerk: Uraufführung „LOVER“ von Christian Jost, 05.04.2014

LOVER, Szenenfoto, Matthias Heyde 
Szenenfoto: Copyright: Matthias Heyde

Das Kraftwerk in Berlin-Mitte ist genau der richtige Ort für Außergewöhnliches. Denn was schlicht als „Musiktheater für gemischten Chor und Schlaginstrumente“ in diesem Industrie-Riesenbau uraufgeführt wurde, ist ein ebenso differenziertes wie packendes Miteinander weit entfernter Welten, komponiert von Christian Jost. Der Rundfunkchor Berlin und das U-Theatre Taiwan realisieren das Werk mit Engagement und superbem Können.

Jost, der sich seit 2011 mehrmals jährlich in Taiwan aufhält und 2012 Composer in Residence beim dortigen National Symphony Orchestra war, hat diese fernöstliche Kultur mit ihren Musik- und Tanztraditionen spürbar in sich aufgesogen und verschmelzt nun beides zu einem West-östlichen Liebesdialog, angetrieben vom Schlagwerk mit 16 Spielerinnen. Schon das klingt, unterteilt in Rhythmus- und Klangfarbeninstrumente, die einander abwechseln oder ergänzen, faszinierend.

LOVER, das Liebespaar, Foto Matthias Heyde
Das Liebespaar. Copyright: Matthias Heyde

Die Klangfarbenistrumente, bestehend aus Vibraphon, unterschiedlich angeschlagenen oder gestrichenen Klangschalen, aus Zimbeln, großen und 38 wiederum unterschiedlich gestimmten kleinen Gongs öffnen sofort die Ohren.

Als Rhythmusgeber fungieren Trommeln aller Größen, gestimmt – wie die Klangfarbeninstrumente – vom Diskant bis zur Kontraoktave. Hinzu kommt der in sechs Stimmen aufgeteilte Rundfunkchor, einstudiert von Nicolas Fink. Wer Ohren hat zu hören, der höre und schaue außerdem genau hin, mit welch exakten Bewegungen die taiwanesischen Künstler den Tönen Gestalt verleihen, und wie konzentriert sie ihre Augen auf Christian Jost heften, der sein Werk selbst dirigiert.

Das Stück rankt sich um sechs poetische Liebesverse, zwei altchinesische und vier, etwas direkter formulierte von e.e.cummings, geschrieben in Amerika zwischen 1925 und 1935. In pausenlosen 70 Minuten werden sie in Ton und Bild verwirklicht, oszillierend zwischen Verhaltenheit und exzessiver Bewegung (Regie: Ruo-Yu Liu) und verbunden durch instrumentale Zwischenspiele.

Dementsprechend bleibt alles im Fluss, und ein Mann im weißen Ganzköperanzug, einen Stab wie ein Ruder ins imaginäre Wasser tauchend, ist offenbar der Fährmann auf diesem Fluss der Liebe und des Lebens.

Mitunter wirbelt er wie ein Jongleur mit diesem Stab, schlägt später auch eine große Trommel. Hier können viele vieles, beherrschen auch die fernöstlichen Kampftechniken, zelebriert mit nacktem Oberkörper. Der Rundfunkchor in seinen klösterlich dunkelroten Kutten (Kostüme: Johan Ku), mit verbundenen Augen die Bühne betretend, begleitet und untermalt das Geschehen mit choralähnlichem, manchmal an Gregorianik erinnerndem Gesang. Jost spricht von „Musik=Tanz=Theater“. In Taiwan gehört das alles zusammen.

Stark beeindruckt mich die Darbietung mit fünf großen, tanzend angeschlagenen Gongs, eine Choreografie von Chi-Chun Huang. Noch mehr aber faszinieren die unterschiedlichen, stets lyrischen Pas de deux, zuerst die verhaltene Interpretation des altchinesischen Gedichts von der Dame, zart wie ein Luftgeist, die ein Herr beim Schilfpflücken erblickt und sich sogleich in sie verliebt. Doch sie hält auch tänzerisch Distanz.

Bei den direkteren, doch keineswegs vulgären Versen von e.e.cummings wird der Tanzstil ein anderer. Doch selbst dabei wird das Begehren zunächst nur mit weichen Gesten angedeutet, kommt das scheue Sich-Nähern lange in fließenden, sehnsuchtsvollen Beinahe-Berührungen zum Ausdruck und wirkt gerade dadurch hocherotisch.

Zuletzt wirbeln die beiden Solisten in langen, leuchtend roten Gewändern mit schwingenden Röcken über die von Keh-Hua Lin gestaltete Bühne. Beim schnellen Drehen des Mannes muss ich an die tanzenden Derwische in Konya denken.

Nach diesem innig-raffinierten Spiel dann die erlösende Umarmung, verdeckt von weißen, von der Decke herunter schwebenden Stoffbändern. Erst am Ende aller Tage, so heißt es im dazugehörigen altchinesischen Volkslied, wollen sich die Liebenden trennen, „wenn der Berg keine Gipfel mehr hat, das Flussbett trocken ist und Himmel und Hölle eins sind.“

Wer diese beiden fabelhaften Tänzer sind, bleibt offen. Im Programmheft wird nur das gesamte Ensemble genannt. Mir werden die Zwei im Gedächtnis bleiben. Nicht nur diese.

Zuletzt starker Beifall und stehende Ovationen für alle Mitwirkenden und diese geglückte west-östliche Liebes-Symbiose, die jedoch vom Zusammenwirken aller lebt.

Ursula Wiegand

 

 

Diese Seite drucken