BERLIN Paul Abraham „BALL IM SAVOY“ Komische Oper, 15.6.2013
Grandioser Theatercoup: Freche Berliner Operette als rasant inszenierte Jazz-Revue – Fledermaus und Lustige Witwe lassen grüßen.
Dagmar Manzel als Madeleine de Faublas. Foto: Iko Freese /drama-berlin.de
„Es begibt sich Wunderbares: Vor den Trillern eines Stars ist die Krise überwunden; wenn auch nur für kurze Stunden.“ (Alfred Grünwald 1932). Berlin 2013: Eine geschäftige kreative Stadt, in der europäische Wirtschaftsgeschichte geschrieben und globale Wegmarken gesetzt werden. Von Deutschland wird die Rettung des Euro und damit der globalen Finanzmärkte erwartet, aber das Spiel ist noch (lange) nicht gewonnen. Der ungewisse Ausgang des europäischen Experiments lassen unseren alten Kontinent erbeben wie zuletzt die Weltwirtschaftskrise in den 30ern, die zu Faschismus und Krieg geführt hat. Die Jungen tanzen als „lost generation“ meist ohne Arbeit und Perspektiven auf diesem Vulkan.
Es ist dem seismographischen Genie des Hausherrn der Komische Oper und Regisseurs, Barrie Kosky, zuzuschreiben, gerade jetzt – wenige Tage bevor der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vor dem Brandenburger Tor eine historische Rede halten wird – das ungekrönte Meisterwerk der Berliner Operette mit einer Produktion zu adeln, die in die Operettengeschichte eingehen wird. Auf jeden Fall verfügt die Komische Oper Berlin als das wahrlich innovativste Opernhaus der Hauptstadt damit über die nächste Kultproduktion nach der Zauberflöte.
Allein die mehr als gelungene Wiederbelebung der bis dato verkannten Musik des großartigen Paul Abraham lohnt den Theaterbesuch. Die Besetzung der weiblichen Hauptrollen mit drei faszinierenden Diven macht den Abend so einzigartig, humorvoll, sexy und am Schluss unheimlich berührend. Nach drei Stunden bester Unterhaltung verstummt das Publikum in einem magischen Moment des Innehaltens mit der Zugabe „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“ aus Victoria und ihr Husar.
Die Schauspielerin und Diseuse Dagmar Manzel als Madeleine des Faublas ist das Epizentrum des Stücks und der Aufführung. Ein Berliner Vulkan mit einzigartigem Charaktersopran, lebensbejahend, stolz, frei, mutig, auf dem Zenit. Sie knüpft an die ganz Großen an. Sie ist eine Marlene Dietrich von heute. Ein Prachtweib, die ihren Song „Warum bin ich verliebt in Dich“ in eine Schubert‘sche Miniatur wandelt. Ein Theaterurereignis, das ein melancholisches Happy End einläutet, nachdem sie erleben muss, dass nicht nur die Liebe einem Ablaufdatum unterliegt, sondern auch Rache nur solange süß ist, als man sich nicht selbst belügt. Wunderbar!
Nicht minder intensiv Katharine Mehrling als „Weltmeisterin im akrobatischen Big-Band Jodeln“ in der Rolle der Jazzkomponistin Daisy Darlington. Unter dem Pseudonym José Pasodoble sorgt sie für das nötige qui pro quo à la Fledermaus oder Lustiger Witwe. „Können Männer treu sein?“ ist die zentrale Frage im Stück. Daisy ist es egal, sie will wie ihr Verlobter Mustafa Bey, Attaché an der türkischen Botschaft, den Reizen des Leben spontan nachgeben. Lieber eine ehrlich offene Beziehung wie ein Beziehungskrampf, wo jeder Seitensprung mit einem Himalaya an Lügen teuer erkauft werden muss. Mehrlings Stimme ist eine wahre Entdeckung. Sie klingt wie die junge Liza Minelli, aber mit der weiblichen Raffinesse einer Audrey Hepburn oder Doris Day. Ein Vollblutstar ist geboren.
Als Kontrapunkt im femininen Dreigestirn wuchtet Agnes Zwierko als aufgeplusterte, aber gutmütige Tangolita mit ihrem in der tiefen Lage ausladenden Prachtmezzo eine Art von berlinerisch-polnischen Orlovsky auf die Bühne, dass die Bretter krachen. Ihren Ex, den Helden des Stücks, Marquis Aristide de Faublas, bringt sie mit der Einlösung eines Schecks beim Ball im Savoy in arge Nöte. Christoph Späth ist als drahtig viriler Typ her ideal in der Rolle des Ehemanns zwischen Lebemannvergangenheit und trautem Heim. Rein stimmlich enttäuscht er, zu fragmentiert ist sein in der Höhe abgenützter Tenor.
Köstlich Helmut Baumanns Mustafa Bey als sympathische Buffo Ergänzung zu Daisy. Wie sein pontevedrinisches Gegenstück in der Lustigen Witwe ist er ein kluger kosmopolitischer, politisch etwas unkorrekter Alter, dem die Gunst des Publikums gehört. Besonders zu erwähnen sind Christine Oertel und Peter Renz als Dienerpaar Bébé (Zofe Madeleines) und Archibald (Kammerdiener Aristides), die im zweiten Akt ein wunderbares Duett von Liebe und Sehnsucht anstimmen.
Die Musik Paul Abrahams auf das Libretto von Alfred Grünwald und Fritz Löhner-Beda ist schlichtweg genial. Aus der überreichen musikalischen Substanz der Partitur könnte man heute 20 Musicals schreiben. Besondere Verdienste kommen der Komischen Oper zu, weil sie die Originalpartitur mit allen Ecken und Kanten von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn rekonstruieren hat lassen. Unglaublich, welch instrumentales Feuerwerk da unter der musikalischen Leitung von Adam Benzwi gezündet wird. Die dreistündige Aufführung vergeht wie im Flug. Auf der Bühne sorgt das leading team rund um Barrie Kosky (Bühnenbild Klaus Grünberg, Kostüme Esther Bialas, Choreographie Otto Pichler, Chöre David Cavelius) für eine große Show à la Broadway an der Spree. Die Damen und Herren des Balletts und Chors versprühen Witz und gute Laune in Flitter, Federn und Pailletten. Das Lindenquintett Berlin setzt ein vokales Glanzlicht im Paradiesgarten der Verführung.
Danke der Komischen Oper für diesen zauberhaften Abend. Um nochmals Alfred Grünwald zu Wort kommen lassen: “Operette? Aktschlusspärchen, Schlagersucher, Reimefinder, mit Musik umrankte Märchen für erwachsne Menschenkinder.“
Ingobert Waltenberger