Opernrarität in Basel:
„Votre Faust“ von Henri Pousseur (Vorstellung: 9. 11. 2013)
Szenenbild der Basler Aufführung von „Votre Faust“ mit Peter von Strombeck als Theaterdirektor mit Meridian Winterberg und im Hintergrund Gerhardt Müller-Goldboom als Dirigent (Foto: Johannes Zillhardt)
Eine echte Opernrarität brachte das Schauspielhaus Basel in Kooperation mit „work in progress-Berlin“ am 8. und 9. November 2013 zur Aufführung: „Votre Faust“ von Henri Pousseur. Der belgische Komponist Pousseur (1929 – 2009) und sein französischer Librettist Michel Butor (geb. 1926) reflektierten in ihrer 1969 in Mailand uraufgeführten „Faust“-Version auf fulminante und manchmal amüsante Art und Weise das Genre Oper in seinem Beziehungsgeflecht zwischen künstlerischem Anspruch, ökonomischen Zwängen und einem kapriziösen Publikumsgeschmack. Sie spielen dabei mit biographischen Selbstreflexionen ebenso wie mit Zitaten aus Literatur (von Marlowe bis Goethe) und Musik (von Monteverdi bis Stockhausen).
Zur Zusammenarbeit zwischen dem Komponisten und dem Librettisten ein Zitat von Henri Pousseur: „Die Musik ist sosehr von Butor beeinflusst wie der Text von mir.“ Die Uraufführung in der Piccola Scala Mailands endete allerdings in einem Desaster und in Publikumsrufen „Viva Mozart, basta Pousseur“! Danach kam es bis heute nur zu vier Neuproduktionen.
Der Inhalt des etwa dreistündigen Werks, das in Basel in deutscher Sprache (Übersetzung: Helmut Scheffel) aufgeführt wurde und Variables Spiel in Art einer Oper genannt wird, kurz gefasst: Der junge Komponist Henri geht einen Pakt mit einem diabolischen Theaterdirektor ein. Einzige Bedingung für die Komposition einer neuen Oper: es muss ein „Faust“ sein. Über den Fortgang von Musik und Handlung entscheidet das Publikum. In der Pause muss es abstimmen, ob Henri mit Maggy, in die er sich zum Ärger des Theaterdirektors verliebte, oder mit Greta, die Nachfolgerin von Maggy als Bedienung in der Schenke „Zur Kirche“, auf den Jahrmarkt gehen soll. Auch das Finale, in dem sich Henri auf der Flucht vor dem Theaterdirektor befindet, wird vom Publikum beeinflusst. Rettet Faust die Kunst oder den Künstler? Gibt es ein privates Glück für Henri oder ein neues Meisterwerk? Aber Vorsicht: Gespielt wird nach den Regeln des Teufels. Und so hatte man bei der Vorstellung am 9. November das Gefühl: weder – noch!
Regie in dieser Koproduktion mit „work in progress-Berlin“ führten Aliénor Dauchez und Georges Delnon. Im Schauspielhaus Basel hatten die Darsteller eine große Spielfläche vor den Publikumsreihen zur Verfügung, auf der unter anderem ein Käfig mit Musikern, ein Trinkwasserbrunnen, ein Podest für den Dirigenten, einige Jahrmarktbuden, Schautafeln und Wände zum Beschreiben aufgebaut waren (Bühnengestaltung: Dauchez und Delnon gemeinsam mit Michael E. Kleine). Auch eine Ziege und Hühner agierten auf der Bühne – ein „musikalischer Zirkus“ eben. Für die Kostüme zeichnete Miriam Marto verantwortlich, die neben den Alltagsgewändern für die Darsteller eine besondere Kleidung für die weiblichen Figuren Maggy und Greta wählte: für das unschuldige Mädchen Maggy Faltenrock und Spitzenkragen, für die „femme fatale“ Greta einen die weiblichen Kurven betonenden Rock und eine tief dekolletierte Bluse. Für die Lichteffekte sorgte Jörg Bittner.
Die Handlung wurde fortwährend musikalisch untermalt durch Flöte und Schlagzeug, aber auch durch andere Instrumente und Ratschen sowie durch Gesang und Einspielungen aus Lautsprechern (mit kaum verständlichen Texten). In dieser Produktion war es günstig, dass die Schauspieler mit Wangenmikrophonen ausgestattet waren, um über die Geräuschkulisse zu kommen. Dennoch mussten sie manchmal fast schreien, um gehört zu werden (Klangregie: Lutz Nerger).
In der Pause, in der das Publikum über die Begleiterin von Henri abzustimmen hatte (in Basel votierte es für Maggie), konnte man sich mit den Darstellern und Musikern unterhalten, es wurde eine Suppe gereicht, der Brunnen auf der Bühne spendete Trinkwasser, man konnte auf den Schluss Wetten abschließen und noch etliches mehr…
Die meisten Rollen wurden von Schauspielern dargestellt: Franz Rogowski spielte den jungen Komponisten Henri mit bescheiden wirkender Zurückhaltung, der in manchen Szenen berührend, fast schüchtern wirkte. Ausgezeichnet agierte als diabolischer Theaterdirektor Peter von Strombeck, dessen angenehme Stimme den notwendigen verführerischen Klang hatte und auch sehr wortdeutlich war. Eindrucksvoll Julia Reznik in der Doppelrolle der unschuldigen Maggy und der lasziven Greta. In beiden Rollen konnte sie das Publikum begeistern, wobei das Urteil für Maggy doch eindeutig ausfiel, wobei zu beobachten war, dass viele junge Frauen ihr Votum (man musste ein hölzernes Ei in eines von zwei beschrifteten Säcken werfen) für Greta abgaben.
Meridian Winterberg spielte eine exaltierte Sängerin, Peter Sura die beiden kleineren Rollen Richard und Louis auf köstlich karikierende Art. Die Sänger – alle aus dem Ensemble Vocalconsort Berlin – waren die Sopranistin Lydia Brotherton, die Altistin Kerstin Stöcker, der Bariton Kai-Uwe Fahnert und der Bassbariton Martin Schubach. Ihre Gesangspartien waren jedoch eher untergeordnet.
Das zwölfköpfige Orchester „work in progress-Berlin“, das 1988 als Ensemble für Gegenwartsmusik gegründet wurde und bereits internationale Anerkennung erfuhr, wurde von seinem Leiter Gerhardt Müller-Goldboom sehr ambitioniert dirigiert. Die Musiker, die teils in einem Affenkäfig spielten, traten unter diversen Verkleidungen mit Perücken auf.
Das Publikum nahm anfangs recht begeistert an dem Musiktheater-Spektakel teil, gab auch zahlreich das Votum in der Pause ab und beteiligte sich – animiert durch einen Conférencier – an den „Abstimmungen“ im letzten Teil des Stücks durch laute Rufe und heftiges Trampeln mit den Füßen. Einige Zuschauer hatten allerdings das Haus zur Pause verlassen, einige quälten sich gähnend und einnickend bis zum Schluss. „Absurdistan lässt grüßen“, war einer der Kommentare aus dem Publikum, das am Ende mit verhaltenem Applaus reagierte. Bravorufe gab es für die Hauptdarsteller, die Musiker und den Dirigenten sowie für den anwesenden Librettisten Michel Butor, der auch das in französischer Sprache gehaltene Einführungsgespräch mitgestaltete.
Udo Pacolt