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Alain ALTINOGLU: „Wenn das Publikum den Text der Sänger nicht versteht, ist das Orchester zu laut.“

Alain Altinoglu – „Wenn das Publikum den Text der Sänger nicht versteht, ist das Orchester zu laut.“

(Renate Publig/ Mai 2014)

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Alain Altinoglu. Foto: Marco Borggreve

 Der junge französische Dirigent Alain Altinoglu, vielen Opernbesuchern natürlich von der Wiener Staatsoper, der MET und anderen großen Häusern ein Begriff, präsentiert sich am 14. und 15. Mai im Musikverein mit einem symphonischen Programm, unter seiner Leitung spielen die Wiener Symphoniker Beethoven und Strawinsky. Direkt im Anschluss an die gelungene erste Probe nahm sich Maestro Altinoglu Zeit für ein Interview, in welchem er unter anderem die reizende Geschichte erzählte, wie er die menschliche Stimme und den Gesang schätzen gelernt hat.

 –          Herr Altinoglu, Sie studierten am Conservatoire de Paris, jedoch nicht Dirigieren, wie man vermuten könnte, sondern Korrepetition. Was fasziniert Sie an der menschlichen Stimme?

 Als ich noch sehr jung war, wusste ich gar nichts über Oper oder Stimmen, ich war nur daran interessiert, Klavier oder Kammermusik zu spielen, und ich hörte ausschließlich Orchestermusik. Im Alter von 15 Jahren traf ich ein Mädchen, die ebenfalls Pianistin war. Sie war bereits 18, und sie erzählte, dass sie zur Aufnahmeprüfung ans Pariser Konservatorium eingeladen wurde. Ich war etwas eifersüchtig, denn ich nahm an, sie wollte Klavier studieren. Sie meinte jedoch: „Nein, ich studiere Gesang!“ Singen? Das war mir neu – also sang sie mir aus der Carmen vor, und ein Lied von Robert Schumann. So hörte ich tatsächlich zum ersten Mal eine klassische Stimme! Übrigens, der Name der Sängerin lautet Nora Gubisch, und sie wurde später meine Frau.

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(Anmerkung: Soeben ist die neue CD „Folk Songs“ erschienen, auf welcher Nora Gubisch unter der Begleitung von Alain Altinoglu Lieder von u.a. Granados, de Falla, Berio singt

Ich begann, mich für Gesang zu interessieren, studierte Korrepetition – und betrat auf diese Weise die Welt der Oper. In den Theatern war ich von allem fasziniert: Da waren natürlich zunächst die Opern selbst, das Drama, die Stimmen –der Farbenreichtum der Stimmen ist unendlich. Jeder Sänger hat ein eigenes Timbre, und mit jedem Sänger klingt dadurch auch eine Oper unterschiedlich! Aber ich war ebenso gefangen davon, was hinter der Bühne geschieht, da passiert dauernd etwas. Die Erfahrungen in der Welt der Oper hätte ich nie gemacht, wenn ich ein Symphonieorchester dirigiert hätte. Zum Beispiel, mit Jessye Norman zu arbeiten. Oder eine Inszenierung mit Wasserfällen auf der Bühne zu erleben, etc. Ich liebte all das, also arbeitete ich immer öfter in der Oper, und als ich dann langsam anfing, Opern zu dirigieren, wurden die Leute auf mich aufmerksam. Danach wurde ich auch eingeladen, symphonische Werke zu dirigieren.

 –          Nach Ihrem Studienabschluss wechselten Sie direkt ins Lehrfach?

 Ich habe tatsächlich ziemlich früh begonnen. Als ich 18 war, begleitete ich am Klavier die Gesangsklassen, zum Beispiel die Klasse von Régine Crespin. In Paris hat der Klavierbegleiter jedoch automatisch die Aufgaben des Korrepetitors. So begann ich, Sänger zu unterrichten, nach ein paar Jahren bekam ich dann eine Ensembleklasse. Mir standen Sänger zur Verfügung, um eine komplette Oper zu besetzen. Es war für uns alle eine wunderbare Erfahrung, Zauberflöte oder Le Nozze di Figaro auf die Bühne zu stellen! Für mich ist der pädagogische Aspekt von großer Bedeutung, egal, ob ich im Orchestergraben oder auf der Bühne mit Sängern arbeite – mir ist wichtig, die Erfahrung an junge Menschen weiterzugeben.

 –          Unterrichten Sie noch?

 Ich habe damit wieder angefangen! 2006 habe ich zunächst die Unterrichtstätigkeit beendet, aber ab September habe eine Professur am Conservatoire de Paris, für eine Dirigierklasse. Es wird nicht einfach sein, das in den Terminkalender unterzubringen, aber ich habe einen Assistenten und muss daher nicht zwingend jede Woche in Paris sein. Ich werde mich mit den Studenten auf das Arbeiten mit dem Orchester konzentrieren, gelegentlich werden sie meine Vorstellungen in der Oper besuchen!

 –          Herzliche Gratulation! Ich war übrigens ziemlich beeindruckt von der Übertragung der MET-Produktion von Massenets Werther. Aus dem Pausengespräch ist mir ein Satz von Ihnen besonders in Erinnerung geblieben, und der lautete sinngemäß: „Wenn das Publikum den Text der Sänger nicht versteht, ist das Orchester zu laut.“

 Vielleicht kommt das von meiner Tätigkeit als Korrepetitor, meine Aufgabe bestand ja auch darin, im Publikumsraum zu überprüfen, ob die Balance passte und gegebenenfalls den Dirigenten darauf aufmerksam zu machen, wenn das Orchester zu laut war. Es ist ein bisschen das Problem der Auffassung von Oper, was ist wichtiger, der Text oder die Musik? Üblicherweise haben Komponisten einen bereits bestehenden Text vertont. Es mag eine Besonderheit der Franzosen sein, dass für uns der Text eine spezielle Bedeutung hat. Wäre dem nicht so, hätten wir nie eine Oper wie Debussys Pelléas et Mélisande, es ist ja kein Zufall, dass diese Oper von einem Franzosen komponiert wurde!

Natürlich gibt es Beispiele, vielleicht bei manchen Stellen bei Richard Wagner, in denen der Gesang mit dem Orchesterklang eine spezielle akustische Verbindung eingeht, wodurch der Text nicht mehr primäre Bedeutung hat.

Aber es ist schlimm, wenn das Orchester so laut ist, dass man die Sänger gar nicht mehr hört, das sieht dann wie eine Playbackversion aus, in der die Sänger lediglich die Lippen bewegen. Oder manchmal ist es etwas besser, man hört die Sänger – aber nur Fragmente, nur dann, wenn die Gesangsstellen besonders hoch oder besonders laut sind. Ich bitte die Orchestermusiker dann oft, nicht nur auf den Gesang selbst zu achten, sondern darauf, ob sie die Worte verstehen. Dadurch spielen sie dann oft wesentlich leiser.

Es gibt eine berühmte Geschichte mit Georg Solti und Richard Strauss. Solti war noch sehr jung, er leitete eine Bühnen-Orchesterprobe von Elektra, Strauss saß im Publikumsraum. Solti war recht stolz, und während der Pause sprach er Strauss an, wie diesem die Probe gefallen habe. Die Antwort lautete: „Sehr gut! Aber leider konnte ich die Sänger nicht hören.“ Danach war Solti Zeit seines Lebens sehr, sehr achtsam mit Sängern.

Gerade wenn man die Partitur von Elektra oder von Salome betrachtet, gibt es leicht Missverständnisse. Die Passagen sind fast immer im Fortissimo notiert, und es ist sehr schwierig, dem Orchester die eigentliche Bedeutung klarzumachen. Dass das Fortissimo natürlich leiser als die Sänger zu sein hat!

 –          In den verschiedenen Opernhäusern die richtige Balance zwischen Orchester und Sängern zu erzielen ist sicher nicht einfach, es beginnt schon damit, dass die Orchestergräben je nach Haus unterschiedlich positioniert sind.

 Ja, in manchen Häusern hat der Graben eine sehr hohe Position, was für die Sänger schwieriger ist. Außerdem sind die Instrumente heute lauter, und wir spielen mit größeren Orchestern. Als Lohengrin in Weimar aufgeführt wurde, unter der Leitung von Franz Liszt, standen ihm acht erste Violinen zur Verfügung. Heute würde niemand bloß mit vier Pulten Violinen Lohengrin aufführen! Ebenso ist es bei Verdi, auch da waren die Originalbesetzungen kleiner. Dann kommt noch die veränderte, verbesserte Spieltechnik der Orchestermusiker hinzu, und die Stimmungen im Orchester sind wesentlich höher als früher. All das macht es sehr schwierig für Sänger.

 –          Gibt es zudem einen Trend der Opernhäuser bzw. der Direktoren, Rollen mit schlankeren Stimmen zu besetzen?

 Das lässt sich schwer verallgemeinern. Karajan war der erste, der für seine Aufnahmen nach schlankeren Stimmen gesucht hat. Heute hängt es vom Repertoire ab. Bei Mozart erleben wir gerade quasi eine Barockrenaissance, mit der Verwendung von Originalinstrument, mit Nikolaus Harnoncourt etc. Wir haben begonnen, die Mozartopern mit weniger dramatischen Stimmen zu besetzten. Aber ich denke nicht, dass das auch für Wagner oder Strauss gilt. Natürlich gibt es das Phänomen Klaus-Florian Vogt, der den Lohengrin singt, der jedoch eine sehr spezielle Stimme hat.

 –          Ihr Repertoire ist recht breit gefächert, allein in Wien sahen wir Sie letztes Jahr in Simon Boccanegra und in Don Giovanni, nächste Saison folgen Salome und Don Carlo.

 Richtig, und davor habe ich noch Faust, Roméo et Juliette und Falstaff dirigiert und bin mit der Staatsoper mit einer Produktion von Le Nozze di Figaro auf Tournee in den Oman gegangen. Ich bin sehr froh darüber, so viele verschiedenen Komponisten und verschiedene Stile dirigieren zu dürfen! Dominique Meyer kennt mich schon seit vielen Jahren, er war einer der ersten, der mir eine wirklich große Chance gegeben hat, als ich 2008 im Théâtre des Champs Elysées Falstaff dirigieren durfte. Danach lud er mich nach Wien ein, wo ich sofort einen Draht zum Orchester hatte. Das führte dazu, dass ich die Wiener Philharmoniker auch in einem Konzert leiten durfte. Ich liebe dieses Orchester, es ist so flexibel, und es ist in der Lage, ein derart vielfältiges Repertoire zu spielen! Auf Salome freue ich mich schon sehr, das wird bestimmt etwas ganz Besonderes.

 –          Sie leiten mittlerweile auch viele symphonische Konzerte.

 Früher habe ich sehr viel Opern dirigiert und kaum symphonische Werke. Aus vielen unterschiedlichen Gründen möchte ich das ändern, ich möchte generell reduzieren. Einer der Hauptgründe ist meine Familie, wir haben einen achtjährigen Sohn, und meine Frau ist früher auch sehr viel gereist. Wenn ich eine Oper dirigiere, bedeutet das, dass ich für zwei, drei Monate weg bin, oft sehr weit entfernt von daheim. Das möchte ich in dieser Form nicht die nächsten zehn Jahre machen.

Zusätzlich ist meine Karriere in der Oper so rasant bergauf gegangen, ich durfte bereits an der MET, in Wien, an der Scala gastieren, an der Royal Opera Covent Garden werde ich nächstes Jahr sein. Die symphonische Tätigkeit entwickelte sich nicht im gleichen Ausmaß. Ich möchte aber beides machen, und ich denke, dass ich nun die richtige Balance gefunden habe.

 –          Diese beiden Konzerte sind Ihr Debüt mit den Wiener Symphoniker?

 Ja, ich arbeite mit diesem Orchester zum ersten Mal! Letztes Jahr habe ich im Musikverein mein Debüt mit dem RSO Wien gefeiert, nächstes Jahr trete ich wieder mit dem RSO und den Symphonikern auf, und die Saison darauf leite ich wieder die Philharmoniker. Ich denke, Herr Angyan schätzt mich – so, wie ich ihn sehr schätze!

 –          Lässt sich der Klang der verschiedenen symphonischen Orchester unterscheiden, ähnlich dem unterschiedlichen Klang menschlicher Stimmen?

 Interessante Frage! Bei den Stimmen ist es natürlich so, dass tatsächlich jede absolut einzigartig ist, so frappant ist es bei den Orchestern nicht. Wenn man heutzutage Radio hört, ist es nicht mehr so einfach, die Orchester zu unterscheiden, wie es noch vor 50 Jahren war. Heute kann sich jeder Musiker im Internet anhören, wie andere Orchester, andere Musiker klingen. Außerdem leben wir in einer Globalisierung, die Besetzung der Orchester wird immer internationaler. Die Spieltechniken beginnen sich anzugleichen, alles wird ein bisschen ähnlicher. Aber es gibt dennoch nach wie vor die Besonderheiten, die ein Orchester ausmachen. Ein französisches Orchester klingt anders als ein amerikanisches. Das hängt mit vielen unterschiedlichen Dingen zusammen, zunächst mit der Kultur, womit ich nicht nur Kultur im Sinne von Kunst meine, sondern im Sinne von Lebenskultur. Manche Menschen wie z.B. die Skandinavier sind im Umgang miteinander direkter, andere sind zurückhaltender etc., diese Unterschiede hört man im Orchesterklang. Man kann im Orchester sogar die Art zu sprechen wahrnehmen! Letztes Jahr habe ich mit einem russischen Orchester Ravels Bolero aufgeführt. Die erste Flöte setzte ein – und spielte in einer sehr speziellen Art, jeder einzelne Ton wurde mit Crescendo – Decrescendo hervorgebracht. Als die Klarinette dies fortsetzte, wurde mir bewusst, dass das die Eigenheit des Orchesters ist, sie wollten die Linien espressivo gestalten, aber in ihrer russischen Sprache. Danach bat ich sie, beim Spielen sozusagen Französisch zu sprechen, und es funktionierte!

Der unterschiedliche Klang der Orchester ergibt sich zum Teil auch aus spezifischen Instrumenten wie beispielsweise die Wiener Oboe oder die Hörner, die eine spezielle Farbe geben. Und dann spielt die Tradition der Orchester eine Rolle, wenn ich die drei großen Orchester Wiens vergleiche, so hat jedes eine eigene Spielweise, eigene Farben. Das hängt natürlich auch mit den GMDs zusammen, wenn sich deren Arbeit über einen genügend langen Zeitraum erstreckt, um ein Orchester zu formen.

Wenn ich mit einem Orchester arbeite, komme ich natürlich mit meinen Ideen zum jeweiligen Stück, das wir aufführen, mit Klangvorstellungen und Nuancen, die ich hören möchte. Aber ich versuche immer auch, auf die Besonderheit des Orchesters einzugehen. Wenn etwas komplett gegen meine Auffassung vom Stück geht, versuche ich, dem Orchester meine Sicht näherzubringen, aber ansonsten ist es mein Bestreben, die Spielweise anzunehmen, die mir das Orchester anbietet, und mit meinen Ideen zu kombinieren.

 –          Ich habe gehört, dass Sie Jazzmusik mögen?

 Das ist richtig! Viele Menschen denken, Jazz zu spielen wäre einfach, aber um ein guter Jazzmusiker zu werden, muss man sehr viel spielen und üben. Dafür fehlt mir leider die Zeit, aber manchmal spiele ich für mich. Es gibt auch diese Idee, mit Bryn Terfel eine Jazz CD aufzunehmen, mit Klavier und Gesang – aber bisher ist das über das Stadium der Idee nicht hinausgegangen. Gelegentlich führe ich mit Orchestern Gershwins Rhapsody in Blue auf, und danach spiele ich eine Jazz-Zugabe. In Strawinskys oder Ravels Werken finden sich eine Menge jazziger Musik, in den „Soldaten“ von Zimmermann gibt es ein Jazz Trio!

 –          Im Jazz gibt es die Möglichkeit des Improvisierens, das in der klassischen Musik nicht mehr üblich ist.

 Dabei haben Beethoven oder Mozart, wenn sie ihre eigenen Konzerte aufgeführt haben, in ihren Kadenzen genau das getan: Sie improvisierten! Improvisation ist absolut nichts Neues. Aber leider werden heutzutage meistens ausgeschriebene Kadenzen dargeboten, die Solisten sind oft etwas zögerlich, der Druck ist hoch, alles muss ja perfekt sein.

 –          Ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Zeit in Wien!

 Hier in Wien gibt es tatsächlich Menschen, die jeden Tag in die Oper gehen. Vor zwei Jahren nahm ich mir am Flughafen ein Taxi. Die Fahrerin war eine Frau um die 50, sie hat mich immer wieder im Rückspiegel betrachtet. Als wir bei einer Ampel hielten, fragte sie: „Sind Sie Herr Altinoglu?“ Ich bejahte, worauf sie begann, ihre Jacke auszuziehen, ich hatte ein bisschen Angst! (lacht) Sie zeigte mir ihr schönes rotes Kleid, dass sie darunter trug. Und sie erzählte: „Wissen Sie, ich fahre jeden Tag von acht Uhr bis vier Uhr Taxi, um genug Geld zu verdienen, damit ich jeden Abend in die Oper gehen kann. Und ich habe Sie letztes Jahr gesehen!“ Solche Geschichten passieren in Wien so oft, ein Fahrer hatte die Biografie von Richard Wagner neben sich liegen, ein anderer machte Bemerkungen über den Tenor, der am Abend davor aufgetreten ist.

Wien ist wirklich eine unglaubliche Stadt!

 Maestro, viel Erfolg bei den Konzerten und vielen Dank für das Gespräch

 

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