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Zwangvolle Plage, Müh ohne Zweck? Eine „Anthologie“ zu den ersten Bayreuther Festspielen 1876

01.04.2022 | Allgemein, buch

Zwangvolle Plage, Müh ohne Zweck?

Eine „Anthologie“ zu den ersten Bayreuther Festspielen 1876

Die ersten Bayreuther Festspiele 1876 von Bernd Zegowitz | ISBN  978-3-8260-7403-5 | Buch online kaufen - Lehmanns.de

Die Bayreuther Festspiele 1876 „waren ein Medienereignis ersten Ranges“, so der Herausgeber Bernd Zegowitz in der Einleitung des vorliegenden Bandes: Mehr als 60 Kritiker allein aus Deutschland berichteten über die Aufführungen, auch aus Österreich, Frankreich, England, den USA, Rußland und anderen Ländern reisten Beobachter an. Ihre oft bemerkenswert ausführlichen Artikel – nicht wenige deutsche und ausländische Kritiker veröffentlichten ihre Berichte gesammelt als Broschüren, die zwischen 50 und 100 Druckseiten umfassen – informieren die Leser zunächst über Dichtung und Musik: Das Rheingold und Die Walküre hatte man vorher nur in München sehen und hören können (Uraufführungen 1869 bzw. 1870), Siegfried und Götterdämmerung gar nicht, von der Wirkung der Tetralogie auf der Bühne konnten sich also auch Wagner-Begeisterte, die die Textbücher und die Klavierauszüge studierten, keine Vorstellung machen. Zegowitz berücksichtigt besonders jene Passagen, die Wagners Inszenierung, dem Bühnenbild und den Kostümen, den Sängern und auch den Rahmenbedingungen in Wagners Bayreuth gewidmet sind und vermittelt damit eine anschauliche Vorstellung von dem, was sich im August 1876 auf dem Grünen Hügel ereignete.

Daß Wagner selbst mit dem erzielten Ergebnis nicht zufrieden war, ist allgemein bekannt, er hat es in seinem Rückblick auf die Bühnenfestspiele des Jahres 1876 (1878) deutlich ausgesprochen. Manches führt er darauf zurück, daß man trotz gründlicher Vorbereitung (schon im Sommer 1875 fanden Vorproben statt) zuletzt in Zeitnot geriet: DieVerdunklung des Zuschauerraums etwa sei gar nicht beabsichtigt gewesen, das Licht hätte nur „stark gedämpft“ werden sollen, was aber aus technischen Gründen beim ersten Zyklus noch nicht möglich gewesen sei. Der in England bestellte „Lindwurm“ wurde stückweise expediert, der Hals fehlte bei der Uraufführung noch, so daß der Kopf „dicht an den ungeheuren Rumpf geheftet“ werden mußte (ein Schelm, der dabei an Franz Josef Strauß denkt!). Wagner gesteht auch seine „Eingenommenheit für einen gewissen dramatischen Realismus“, die ihn z.B. veranlaßte, an Georg Unger als Siegfried im Zweiten und Dritten Tag festzuhalten, obwohl er der Rolle nicht wirklich gewachsen war und obwohl der wesentlich tüchtigere Albert Niemann, der den Siegmund sang, gern auch den Siegfried in der Götterdämmerung übernommen hätte. Eben dieser „barbarische Realismus“ (Paul Lindau) wurde wiederholt kritisiert, weil, so Heinrich Ehrlich, „das an sich richtige Prinzip der Nachahmung der Natur in der absoluten Durchführung das Gegentheil des beabsichtigten Resultats herbeiführte“.

Das Beispiel Albert Niemanns zeigt, wie unterschiedlich – je nach dem Standpunkt des Berichterstatters – die Urteile über Sänger ausfallen: Für seine Kollegin Lilli Lehmann war er „der Siegmund, erschütternd, großartig, wie ihn Wagner gedichtet hat und komponiert“ und damit unerreicht, alle die diese Rolle nach ihm sangen, „können sich begraben lassen“. Wagner rühmt Niemann als „das eigentliche Enthusiasmus treibende Element unseres Vereins“ (Edvard Grieg äußert sich ähnlich, macht aber gewisse Vorbehalte). Der Komponist Camille Saint-Saëns dagegen fand sowohl Niemann wie (in noch stärkerem Maße) Unger „ebenso angenehm anzuschauen wie unangenehm zu hören“, und auch ihre Kollegen fanden keine Gnade vor seinen Ohren: Die meisten Sänger, so wieder Saint-Saëns, „schreien statt zu singen“ (später sollte vom „Bayreuth bark“ die Rede sein). Was gemeint ist, verdeutlicht eine Beobachtung von Paul Lindau: Das Lied vom Wonnemond, dem die Winterstürme wichen, faßte Niemann, „wie es die Dichtung gebietet, als dramatischen Vortrag“, also völlig richtig auf; trotzdem hätte sich der Kritiker gewünscht, daß er es „wie eine Cantilene behandeln dürfte“.

Lilli Lehmann sang 1876 die Woglinde, sie gehört also zu den am ersten Ring Beteiligten – Sänger, der Kostümbildner Carl Emil Doepler, der Choreograph Richard Fricke, Felix Mottl als musikalischer Assistent… –, die später (zum Teil wesentlich später) ihre Erinnerungen nicht nur an die Aufführungen, sondern auch an die Probenarbeit veröffentlichten. Kontrovers wird dabei  der Regisseur Wagner beurteilt: Doepler nennt ihn „einen Meister der Regie par excellence“; dagegen sagt Fricke, er habe die Sänger verwirrt, „denn heute will er es so und morgen wieder anders“. Frickes Tagebuchufzeichnungen sind 1876 von Tag zu Tag entstanden, Doepler und der Gesangslehrer Julius Hey, der die „klare, leicht faßliche Art“ rühmte, in der Wagner „die Mitwirkenden über alles verständigte“, veröffentlichten ihre Erinnerungen um 1900; der zeitliche Abstand zum Ereignis mag hier manches verklärt haben.

Obwohl die Rheintöchter (neben Lilli Lehmann ihre Schwester Marie und und Minna Lammert) ja nur zwei, relativ kurze Szenen im Rheingold und der Götterdämmerung haben, werden sie von den meisten Kritikern erwähnt und immer hochgelobt, was daran liegen mag, daß sie nicht nur gut singen, sondern auch elegant schwimmen konnten: Die berühmten, vom Maschinenmeister Karl Brandt konstruierten „Schwimmapparate“ waren vielleicht die gelungenste bühnentechnische Innovation im ersten Ring.

Neben Saint-Saëns berichteten noch andere Komponisten aus Bayreuth, auch die Berichte von Edvard Grieg und Peter Tschaikowsky hat Zegowitz in seine Anthologie aufgenommen (man wäre auch am, offenbar sehr kritischen, Urteil von Tschaikowskys Landsmann César Cui interessiert, aber natürlich darf ein solches Buch einen gewissen Umfang nicht überschreiten). Wie andere Kritiker geht Tschaikowsky auch auf die widrigen äußeren Umstände ein: auf die große Hitze, die den Fußmarsch zum Grünen Hügel (in Bayreuth fehlte es an Droschken, die die Besucher an ihr Ziel bringen könnten) und den Aufenthalt im Festspielhaus beschwerlich machte; und die kleine Stadt verfügte auch nicht über die nötige Infrastruktur, um so viele Gäste zu verköstigen, manch einer mußte ohne Abendessen schlafen gehen: „Von Beefsteaks, Frikadellen und Bratkartoffeln wurde mehr gesprochen als von Wagners Musik.“ Tschaikowsky verschweigt auch nicht, daß er manches in der Tetralogie langweilig findet; und er äußert die Vermutung, „dieses gewaltige Werk“ könnte „dazu verurteilt sein, im verödeten Bayreuther Theater im ewigen Schlaf zu ruhen“ – womit einmal mehr bewiesen wäre, daß auch große Männer mit ihren Prognosen gewaltig danebenliegen können.

Der schöne Band ist sowohl für Wagnerianer und Festspielbesucher wie für (Musik-)Theaterhistoriker nützlich und wertvoll; kritisieren könnte man lediglich, daß der Herausgeber auf Sacherläuterungen (in Fußnoten, oder etwa in einem Glossar) verzichtet hat, die gelegentlich hilfreich wären.

Albert Gier

Die ersten Bayreuther Festspiele 1876. Eine Anthologie. Hg. und mit einer Einleitung versehen von Bernd Zegowitz (Wagner in der Diskussion, 22), Würzburg: Königshausen  Neumann 2022,  383 S.

 

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